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Krieg in der Ukraine: So ist die Lage

Lesezeit 5 Minuten

Kiew – Bei anhaltend schweren Kämpfen im Osten der Ukraine sind die russischen Truppen nach Angaben aus Kiew weiter vorgerückt. Wie der ukrainische Generalstab mitteilte, liegen die neu eingenommenen Ortschaften nur etwa zehn Kilometer südwestlich des Verkehrsknotenpunkts Bachmut.

Die Russen könnten nun bald Nachschubwege für das wichtige Verwaltungszentrum Sjewjerodonezk abschneiden. Gleich zwei Bundesminister - Cem Özdemir und Karl Lauterbach - besuchen am Freitag das angegriffene Land und versprachen dort deutsche Hilfen für die Landwirtschaft und bei der Versorgung von Kriegsopfern. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ist im Balkan unterwegs und versucht, Serbien zu einer Abkehr von seinem russland-freundlichen Kurs zu bewegen. Wann Deutschland der Ukraine die versprochenen schweren Waffensysteme liefert, ist weiter unklar.

Kaum Veränderung bei Kampf um Sjewjerodonezk

Die Kämpfe um die strategisch wichtige Großstadt Sjewjerodonezk verliefen nach ukrainischen Angaben ohne größere Veränderungen. Die russischen Truppen versuchten „weiter erfolglos”, die volle Kontrolle über das Verwaltungszentrum der Region Luhansk zu gewinnen, teilte der Generalstab mit. Auch bei anderen Gefechten rund um die Stadt seien die Angreifer zurückgeworfen worden. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte die Schlacht um die Stadt mit einst mehr als 100.000 Einwohnern als die vielleicht schwerste des Krieges bezeichnet.

Die prorussischen Separatisten meldeten dagegen, die Chemiefabrik Azot in Sjewjerodonezk sei umzingelt worden. „Alle Fluchtwege sind für sie abgeschnitten”, schrieb der Botschafter der selbst ernannten Volksrepublik Luhansk in Moskau, Rodion Miroschnik, auf Telegram. Er räumte die Möglichkeit ein, dass sich auf dem Gelände weiter auch Zivilisten aufhalten. Die ukrainische Seite hatte von Hunderten Menschen gesprochen, die die Keller als Luftschutzbunker nutzten.

Selenskyj-Berater: 10.000 ukrainische Soldaten getötet

Etwa 10.000 Soldaten der ukrainischen Armee sind nach Angaben eines Beraters von Präsident Wolodymyr Selenskyj seit der russischen Invasion im Februar getötet worden. Die Zahl fiel in einem der regelmäßigen Youtube-Videointerviews des Präsidenten-Vertrauen Olexij Arestowytsch mit dem russischen Oppositionellen Mark Feygin.

Diese Woche hatte Verteidigungsminister Olexij Resnikow gesagt, dass aktuell täglich bis zu 100 ukrainische Soldaten getötet würden. Arestowytsch sagte darüber hinaus, dass auf ukrainischer Seite auch zu Beginn des Krieges rund 100 Militärangehörige pro Tag gestorben seien. Auf Feygins Frage, ob man also von rund 10.000 getöteten Soldaten insgesamt ausgehen könne, antwortete er: „Ja, so in etwa”.

Weder von der Ukraine, noch von Russland gab es bisher erschöpfende Angaben zu den Verlusten in dem am 24. Februar begonnenen Krieg. Laut Arestowytsch werden dauerhaft mehr russische als ukrainische Soldaten getötet. Am Freitag seien die Angriffe der ukrainische Artillerie mit westlicher Munition besonders effizient gewesen, sagte er und nannte die Schätzung von rund 600 getöteten russischen Soldaten.

Mit Blick darauf appellierte der Selenskyj-Berater an den Westen, viel schneller Waffen und Munition zu liefern. Die ukrainische Regierung sei zwar für die bisherige Hilfe sehr dankbar, ohne die man vermutlich bereits hinter den Dnepr-Fluss zurückgedrängt worden wäre. Er verstehe aber die Langsamkeit bei den Lieferungen nicht.

Bundesregierung hält sich bei Waffenlieferungen bedeckt

Die Bundesregierung hält sich trotz ukrainischer Forderungen nach mehr Klarheit zu den Lieferfristen der zugesagten Waffensysteme weiter bedeckt. Aus organisatorischen Gründen und wegen Sicherheitsfragen sei es heikel, über Zeitpläne zu sprechen, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Die Vorbereitung laufe auf Hochtouren. „Aber sowas passiert nicht von heute auf morgen.”

Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, hatte zuvor im „Tagesspiegel” kritisiert, es gebe bisher keinerlei Klarheit, wann etwa die Mehrfachraketenwerfer Mars aus Beständen der Bundeswehr übergeben werden.

Ex-Nato-Generalsekretär: Krieg ist Fortführung der Krim-Annexion

Aus Sicht des früheren Nato-Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen ist der russische Einmarsch in die Ukraine eine Fortsetzung der Besetzung der Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Zu sehen, wie eine Atommacht eine vollständige Invasion in ein Nachbarland in Gang setze, sei zwar schwer zu glauben gewesen, sagte er in Kopenhagen. „Eigentlich hätten wir nicht überrascht sein dürfen”, fügte er hinzu. Der eingeschlagene Weg des russischen Präsidenten Wladimir Putin sei niemals verheimlicht worden.

Westen beäugt Serbiens Nähe zu Russland

Wenige Stunden vor seinem Serbien-Besuch legte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dem EU-Beitrittskandidaten eine Abkehr von seinem bislang engen Verhältnis zu Russland nahe. „Wer Mitglied der Europäischen Union werden will, muss das gesamte Regime, das damit verbunden ist, für sich akzeptieren”, sagte er auf einer Pressekonferenz mit dem kosovarischen Ministerpräsidenten Albin Kurti in Pristina. Serbien verhandelt seit 2014 um einen Beitritt zur EU. Zugleich pflegt das Land ein enges Verhältnis zu Russland und China. Scholz ist am Freitag zu einer zweitägigen Reise durch fünf Balkanländer aufgebrochen.

Lauterbach sagt humanitäre Hilfe zu

Bundesgesundheitsminister Lauterbach sagte der Ukraine bei seinem Besuch Unterstützung bei der Versorgung Schwerverletzter zu. „Die Ukraine braucht humanitäre Hilfe genauso dringend wie unsere militärische Unterstützung”, sagte er im westukrainischen Lwiw (Lemberg). Aufgebaut werden sollen etwa Traumazentren für Verletzte sowie spezielle Container-Werkstätten zur Herstellung von Prothesen. Weiter berichtete Lauterbach, auf Vermittlung seines Hauses über die Bundesärztekammer hätten sich 200 Chirurgen und Notfallmediziner für einen Einsatz in der Ukraine angeboten. Sie wollten dort „so schnell wie möglich” zum Einsatz kommen.

Özdemir sichert Hilfe für ukrainische Landwirtschaft zu

Bundesagrarminister Cem Özdemir sicherte der Ukraine deutsche Hilfe zum Aufrechterhalten der Landwirtschaft und von Exporten trotz des andauernden russischen Krieges zu. „Der Erfolg der ukrainischen Landwirtschaft ist nicht nur für die Ukraine wichtig, er ist für uns alle wichtig”, sagte der Grünen-Politiker in einem Agrarkolleg in Nemischajewe bei Kiew mit Blick auf Ausfuhren für die weltweite Ernährungssicherung. Als konkrete Hilfen kündigte Özdemir unter anderem 500.000 Euro zum Ausbau von Laborkapazitäten in Ismajil an der Grenze zu Rumänien an, um die Abfertigung von Agrarexporten zu beschleunigen. Zudem will Deutschland fünf Millionen Euro für Tierarzneimittel bereitstellen.

Der Krieg hat zu weltweit angespannten Agrarmärkten sowie steigenden Preisen geführt und löst auch Sorgen um die Ernährungssicherung in einigen Ländern aus. Denn die Ukraine ist ein großer Exporteur unter anderem von Weizen vor allem nach Nordafrika und Asien.

© dpa-infocom, dpa:220610-99-611680/11 (dpa)