Hölle von MariupolDeutschlehrerin gelingt Flucht nach 25 Tagen im Schutzkeller
- Natalia Shelgunova lebt seit 1995 in Mariupol, sie ist Deutschlehrerin am Lyzeum.
- Dort organisierte sie regelmäßig Schüleraustausche mit Deutschland.
- Sie erzählt ihre Geschichte über Textnachrichten.
Mariupol – Es ist der zehnte Tag des Krieges, als Natalia Shelgunova die Katastrophe so richtig begreift. Sie steigt gerade die Treppen zum Hof hinunter, um zurück in den Keller zu ihrer Familie zu gehen, in den Händen das Essen, das sie aus ihrer Wohnung geholt hat. Da explodieren Bomben und Raketen direkt vor ihrem Haus. Die Fensterscheiben zerbersten, Splitter rasen durch die Luft, die Tür zum Hof ächzt unter den Druckwellen, vor dem Haus fallen Schüsse und Natalia Shelgunova kauert sich im Treppenhaus zusammen, zweimal denkt sie das war’s, diese Explosion war so laut, da muss eine Bombe das Haus getroffen haben. Sie zittert, betet um ihr Leben, 95 Minuten lang, bis der Beschuss nachlässt.
Mariupol. Die Großstadt am Asowschen Meer gilt als Industriezentrum, sie ist vielleicht keine architektonische Schönheit, aber eine Hafenstadt mit langem Sandstrand, der an heißen Sommertagen voller Leben ist. Eine Stadt, in der die meisten Menschen russisch sprechen. Mit der demokratischen Revolution 2014, sagt Natalia Shelgunova, beginnt der Aufschwung in Mariupol. Die Straßen, vorher durchsetzt von Schlaglöchern, werden renoviert, die Parks verschönert, Wohnblöcke saniert. Bauarbeiter und Achitekten errichten eine neue Universität, die Stadtverwaltung organisiert Festivals und Konzerte, um junge Menschen nach Mariupol zu locken, in die Studentenstadt. „Die Stadt hat geblüht“, sagt Natalia Shelgunova.
Natalia Shelgunova, 43 Jahre alt, lebt seit 1995 in Mariupol, gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer vierzehnjährigen Tochter. Sie ist Lehrerin am Lyzeum, Deutschlehrerin, um genau zu sein, und organisierte regelmäßig Schüleraustausche mit einer Partnerschule in Deutschland. Ihre älteste Tochter, 19 Jahre alt, studiert in Frankfurt Oder. Sie erzählt ihre Geschichte über Textnachrichten – für einen Sprachanruf reicht das Internet nicht aus.
Die „Kellergesellschaft“ in Mariupol
Erster Kriegstag, fünf Uhr morgens. Frau Shelgunova erwacht vom Lärm der Explosionen, doch sie glaubt nicht, was sie hört. Krieg? Hier in Mariupol? Sie zieht mit ihrer Familie in den Keller des Hochhauses und denkt, der Wahnsinn wird enden, ganz bald. Daran glaubt sie auch noch, als die russische Armee die Stadt am 4. Kriegstag umschließt und mit der Belagerung beginnt. Auch, als Strom, Wasser, Gas, Netz und Internet ausfallen. Bis sie am zehnten Kriegstag 95 Minuten unter schwerstem Beschuss im Treppenhaus verharrt.
Fünfunzwanzig Tage lebt sie mit ihrer Familie im Keller des Hochhauses, insgesamt 56 Menschen findet dort Zuflucht. Der Kellerraum ist trocken, nicht zu kalt, groß genug, um allen Menschen einen Schlafplatz zu bieten. Die „Kellergesellschaft“, wie Frau Shelgunova sie nennt, bildet Gruppen. Eine Gruppe, die am Feuer steht und kocht. Eine Gruppe, meist Männer, die draußen nach Wasser und Lebensmittel sucht. Andere passten auf, aus welcher Richtung Bomben und Raketen fallen. „Die Flugzeuge sind am gefährlichsten“, sagt Frau Shelgunova. „Ihre Bomben fallen leise. Man kann nur vermuten, wo sie explodieren.“
Alle Gruppen der „Kellergesellschaft“, die tagsüber den Keller verlassen, kehren lebend zurück. Ihre Nachbarn haben nicht so viel Glück, sagt Frau Shelgunova. Dort habe es Tote gegeben. Trinkwasser füllen sie von nun an aus den Wassertänken der Feuerwehr ab, die in der Stadt verteilt sind.
Jeder Tag in dem Kellerloch gleicht dem nächsten. Einmal rätselt die Gruppe, welchen Wochentag sie haben. Dienstag? Oder vielleicht doch schon Mittwoch? Frau Shelgunova sagt: „Es war ein Samstag.“
Frau Shelgunovas Familie will fliehen
Jeder in der „Kellergesellschaft“ hat eine Aufgabe. Natalia Shelgunova stellt Essenspläne auf, kocht und versucht, so etwas ähnliches wie eine gute Stimmung zu verbreiten. Die Suche nach positiven Geschehnissen hält sie am Leben, hilft ihr, nicht verrückt zu werden in diesem Keller mit 56 Menschen. Positives wie die Temperaturen unter null Grad, dank denen sie Lebensmittel länger lagern können. Positives wie der Schnee, den sie aufsammeln und zu Trinkwasser schmelzen. Die Natur, sagt sie, stellt sich auf ihre Seite.
In einer Nacht, nach 25 Tagen im Keller, kann Frau Shelgunova nicht schlafen. Die Trinkwasserreserven der Feuerwehr sind leer. Alle 30 Minuten rasen Flugzeuge über den Himmel und lassen Bomben auf die Stadt fallen. Gegen drei Uhr denken Frau Shelgunova und ihr Mann es reicht, sie verlassen Mariupol, gleich morgen früh. Über drei Wochen hatten sie zu viel Angst, um zu fliehen. Jetzt haben sie Angst zu blieben. Im Keller begraben zu werden.
26. Kriegstag, sechs Uhr morgens. Natalia Shelgunova, ihr Mann und ihre Tochter packen drei Rucksäcke und einen Koffer, ihr Mann holt seine Mutter aus einem anderen Keller. Wir gehen, sagt Frau Shelgunova zu ihrer „Kellergesellschaft“. 35 Menschen schließen sich der Familie an. Von einem Evakuierungspunkt an der Küste aus fahren Busse in die selbsternannte Republik Donezk, das hatten einige Männer bei ihrer Wassersuche erfahren. Bis zuletzt wollte sich Frau Shelgunova weigern, in einen solchen Bus zu steigen. Doch die Bomben, die im Nachbarhof explodieren, sagt sie, seien ziemlich überzeugend.
Die Hölle, die einst Mariupol war
Eine Stunde wartet die Gruppe, bis die Gefechte nachlassen. Dann verlässt Natalia Shelgunova den Keller, ihr Wohnhaus, zum ersten Mal seit Kriegsbeginn. Sie laufen los, überqueren eilig die Straßen, drücken sich an Mauern und warten dort auf die Älteren. Frau Shelgunova sieht zum ersten Mal die Stadt, die einmal Mariupol war. Sie läuft an Hochhäusern vorbei, schwarz und ausgebrannt. Sie passiert einen Trümmerhaufen, der einmal eine Kirche war. Sie hört das Glas zerbrochener Fensterscheiben unter ihren Schuhen knirschen, hört die Schüsse und Explosionen, aus allen Richtungen, immer wieder. Mariupol, die einst blühende Stadt. Diese Hölle, sagt Natalia Shelgunova.
Eineinhalb Stunden laufen sie durch die zerstörte Stadt, dann erreichen sie den Evakuierungspunkt. Ein Soldat kontrolliert ihre Pässe, lässt sie durch, der nächste Bus wird ihrer sein. Neben Frau Shelgunova steht eine Frau, die telefonieren kann. Frau Shelgunovas Eltern leben in der selbsternannten Republik Donezk, sie schickt ihnen über das Handy der Frau eine Nachricht. Wir leben, wir kommen zu euch. Dann steigt sie mit ihrer Familie in den Bus und bangt. Ob ihre Eltern bei dieser Nachricht zusammenbrechen? Bei dem ersten Lebenszeichen nach drei Wochen Funkstille?
Doch ihre Eltern stehen an der Bushaltestelle und warten, als Frau Shelgunova und ihre Familie in Telmanovo aussteigen, 60 Kilometer von Mariupol entfernt. Dort, bei ihren Eltern, werden sie vorerst blieben, bis sie ein neues Leben beginnen, irgendwo.
Putin, der Ukrainischlehrer
Kaum eine Stadt ist bei den russischen Angriffen in der Ukraine so stark getroffen worden wie Mariupol. Knapp 90 Prozent der Infrastruktur wurde zerstört. Die Bilder von dem bombardierten Stadttheater, in dem Frauen und Kinder Zuflucht suchten und von dem Luftangriff der russischen Armee auf die Geburtsstation gingen um die Welt. Laut der Stadtverwaltung töteten die Angriffe innerhalb weniger Wochen tausende Zivilisten. Denjenigen, die geblieben sind, ging das Essen und Trinken aus.
Anfang April flohen Natalia Shelgunova, ihre Familie und einige ihrer Schüler erneut, diesmal aus der selbsternannten Republik Donezk. Sie zogen nach Wittmund, den Ort, den sie schon durch die Schüleraustausche kennt. Dort beginnen Frau Shelgunova, ihre Tochter und ihr Mann ein neues Leben. Vorerst.
„Ich mochte meine Stadt sehr“, sagt Natalia Shelgunova. „Ich hatte einen schönen, kreativen Job mit tollen Schülern, allerlei Projekte und ein Leben, mit dem ich absolut zufrieden war.“ Irgendwann würde sie gerne nach Mariupol zurückkehren, sagt sie. Aber nur, wenn Mariupol dann wieder die Stadt ist, die es einmal war.