Wir haben uns verdoppeltWie eine Düsseldorfer Familie Ukrainerinnen aufgenommen hat
Düsseldorf – Aufgeregt warten wir auf die Ankunft unserer ukrainischen Gastfamilie. Es ist der 6. März 2021. Wir haben Suppe gekocht und Bier kaltgestellt und die Nachbarin hat ein Blech Schokoladenkuchen gebacken. Vor drei Tagen haben wir uns auf der Plattform www.shelter4ua.com registriert und unser Zimmer unter dem Dach als Unterkunft angeboten. In die Suchmaske schrieben wir: 1-4 persons, familys welcome, we also have two kids. Innerhalb weniger Stunden bekamen wir eine Anfrage von einer vierköpfigen Familie. Und sagten zu.
Alle freuen sich auf die Ankunft der erweiterten Familie, unsere Söhne Lasse und Jim (11 & 7 Jahre) haben gemalt und überall im Haus hängen jetzt Schilder mit den Namen der bald ankommenden Gäste; auch Birgit und ihr Sohn Jacob (8 Jahre), die ebenfalls bei uns im Haus wohnen, fiebern mit und freuen sich auf die Vergrößerung der Wohngemeinschaft! HERZLICH WILLKOMMEN, Dani, Arina, Lina und Tatjana!
Karlsson vom Dach, den kennen wir
7.3. – Wir sitzen zu acht am Frühstückstisch, wir haben uns verdoppelt. Der Tisch reicht kaum für uns alle aus; Lina sitzt mit ihren Kindern Arina und Dani auf der Bank und neben ihr sitzt ihre Mutter Tatjana. Wir haben zusätzliche Stühle geholt, die wir behelfsmäßig um den Tisch quetschen, wobei die Stuhllehnen aneinanderstoßen. Endlich sitzen wir alle. „Guten Appetit“, tippe ich in die Übersetzungs-App ein, „Smatschnogo“ spricht die monotone Stimme, „Smatschnogo“ wiederhole ich. Alle lachen. Die 36jährige Lina erzählt, dass sie sich wie im Märchen fühlen, wie bei Karlsson auf dem Dach. Sie nimmt ihr Handy zu Hilfe und zeigt uns eine ukrainische Karlsson-auf-dem-Dach-Cartoon-Adaption. „Ja, Karlsson auf dem Dach“, sagt unser ältester Sohn Lasse, „Karlsson, den kennen wir“.
8.3. – Ich zeige Lina und Tatjana den Supermarkt, den Marktplatz und den Spielplatz. Der Einkauf an der Fleischtheke stellt sich als kompliziert heraus, da mir selbst als Veganerin das nötige Fachvokabular für den Fleischbedarf fehlt. Lina zeigt mir Bilder von den zu benötigten Zutaten, die sie in die Übersetzungs-App eingibt. Ich verstehe, dass sie das ukrainische Nationalgericht „Borschtsch“ für uns kochen will und dass sie dafür „Kalb“ braucht. Ich sage zu der Verkäuferin hinter der Fleischtheke „Kalb“ und sie schüttelt mit dem Kopf. „Rind, nur Rind hätte sie da und das ist sogar im Angebot“. Ich tippe „Rind“ in die Übersetzungs-App ein und ernte nur ein Kopfschütteln von Lina. Die hinter uns Wartenden räuspern sich.
Am Weltfrauentag weinen wir alle
Als wir am Spielplatz ankommen, halte ich plötzlich einen Blumenstrauß in der Hand. Es ist ein Blumenstrauß mit Nelken und Rosen. Ich weiß nicht, wo Lina und Tatjana diesen Blumenstrauß herbekommen haben, aber scheinbar gehört er jetzt mir. Die Übersetzungs-App von Tatjana teilt mir in gewohnt monotoner Stimme mit: Heute ist Weltfrauentag. Das ist unser Feiertag. Heute feiern wir die Frauen. Ich versuche meine Tränen zu verbergen, aber plötzlich weinen wir alle.
9.3. – Wir melden unsere Söhne Lasse und Jim in der Schule „krank“ und geben ihnen die Aufgabe, sich um ihre neuen Gastgeschwister zu kümmern. Sie ziehen gemeinsam über die Spielplätze im Viertel und erfinden Spiele, für die es keiner gemeinsamen Sprache bedarf. Abends spielen wir alle zusammen Rummikub – ein Spiel, bei dem man nicht sprechen muss und bei dem es nur um Zahlen geht. Wir lachen viel. Es tut gut, gemeinsam zu lachen. Wir stoßen mit Wein und Cuba Libre auf den Frieden an, „За мир!“ „Za myr!“ „Prost!“ „Будьмо!“ „Bud’mo!“
Wechselklamotten sind knapp
10.3. – Wir gründen eine gemeinsame Telegram-Gruppe und installieren einen Übersetzungs-Bot. Diese Gruppe ist nun unsere Kommunikationsgrundlage, hier tauschen wir uns über alles Nötige aus. Wir erfahren, dass Lina und Tatjana kaum Wechselkleidung haben – ebenso die Kinder. Wir wühlen in alten Keller-Schränken nach aussortierten Kinderklamotten und teilen den Bedarf im Freundeskreis und in der Nachbarschaft mit. Birgit übernimmt die Koordination der Berge von Säcken mit Socken, Schuhen, Jacken und Hosen und T-Shirts, die sich innerhalb der nächsten Stunden und Tage in unserem Treppenhaus häufen. Ebenso bieten uns Menschen an, Geld auf unser Konto zu überweisen. Es sind zum Teil Menschen, die uns erst ein einziges Mal begegnet sind und die auf irgendeine Weise von unserer Beherbergung der Familie erfahren haben. Zum Teil sind es aber auch Freunde, die ebenfalls helfen wollen. Wir sind von dieser unglaublichen Hilfsbereitschaft überwältigt und sagen zu allem „Ja“. Schließlich hilft man sich in der Not. Und alle wollen helfen. Das ist schön. Es ist schön, von solch hilfsbereiten Menschen umgeben zu sein. Wir sind sehr dankbar.
11.3. – Seit Lina, Tatjana, Dani und Arina bei uns wohnen, duftet das ganze Haus nach Essen. Tatjana und Lina kochen Suppe und braten Frikadellen, und wir, obwohl wir eigentlich Veganer sind, essen Hühnersuppe und Speck. Wir sind bemüht, alle Grenzen zwischen uns abzuschaffen, so viele wir selbst imstande sind abzuschaffen. Wir haben keine gemeinsame Sprache, aber wir haben ein gemeinsames Essen. Wir wollen alles tun, damit sich Tatjana, Lina, Arina und Dani bei uns wie zu Hause fühlen.
Eltern lassen ihre Kinder nicht allein
12.3. – Während wir schwarzen Tee mit Zucker trinken, fallen Bomben auf Kiew. Und in einem Bunker in Kiew sitzt Linas Schwester, Olena. Wir erfahren, dass sie nicht mit Lina und Tatjana nach Deutschland geflohen ist, weil ihr gerade 18 Jahre alt gewordener Sohn nicht das Land verlassen durfte. „Eltern lassen ihre Kinder nicht allein“, tippe ich in die Übersetzungs-App. Sofort schimmert mir die unbekannte kyrillische Schrift entgegen, die für mich einer Geheimsprache gleicht: „Батьки не можуть залишити своїх дітей“: Während die monotone Stimme den ukrainischen Satz „Bat’ky ne mozhyt zalyshyty svoiych ditej“ ausspricht, schaue ich in Tatjanas und Linas Augen. Denn nur in den Augen kann ich ablesen, ob der Satz richtig übersetzt wurde. Die Augen sind mein einziger Anhaltspunkt, mein Anker in der eigenen Sprachlosigkeit. Tatjana fängt an zu weinen. Wieder weinen wir alle. Weltfrauenweintag.
13.3. – Alle Kinder im Haus verstehen sich gut, sie schauen gemeinsam Filme, sie spielen Computerspiele und sie malen Bilder. Auf den Bildern sieht man Panzer, Bomben, U-Boote und zerstörte Häuser. Auch unsere Söhne malen diese Bilder. Wie wohl die Aufnahme der Flüchtlingsfamilie auf unsere Kinder wirkt? Was lernen sie? Was denken sie? Wie sollen wir ihnen den Krieg erklären? Müssen wir ihnen überhaupt noch irgendwas erklären? Reicht es nicht, der Unmenschlichkeit Menschlichkeit entgegenzusetzen? Entschärfen wir nicht die schreckliche Wirklichkeit durch unser Tun? Tun wir genug? Schaffen wir es wirklich, durch unsere Gastfreundschaft die Grausamkeit des Krieges abzumildern? Wie wirken wir?
14.3. – Ich versuche einen Behandlungsschein für Lina zu ertelefonieren. Ich habe eine Nummer, aber auf der ist die ganze Zeit besetzt. Lina ist noch nicht krankenversichert, weil ihr Antrag vom Sozialamt noch nicht bearbeitet wurde. Deshalb braucht sie für jeden Arztbesuch einen Behandlungsschein. Sie hat eine chronische Erkrankung und in drei Tagen laufen ihre Medikamente ab. Endlich ist nicht mehr besetzt und es tutet in der Leitung. Doch jetzt antwortet niemand. Ich schicke eine E-Mail an eine für die Ukraine-Flüchtlinge eingerichtete Anlaufstelle: „Behandlungsschein benötigt“ und bekomme eine automatisierte Antwort mit dem Hinweis auf die FAQs.
Telefonterror beim Amt
15.3. – Ich werde zu einer Telefonterroristin. Ich rufe bei allen städtischen Mitarbeitenden aller möglichen Asyl-Beratungsstellen an; ich brauche einen Behandlungsschein für Lina. Denn die Zeit drängt, morgen braucht sie die Medikamente für ihre chronische Erkrankung. Ich habe noch nie eine Person dreißig Mal hintereinander angerufen, doch jetzt habe ich es getan. Weder der unter dem Anfangsbuchstaben von Linas Nachnamen („R“) zuständige Sachbearbeiter meldet sich, noch der Chef eben dieses Sachbearbeiters. Ich verstehe nicht, wie der für Asyl zuständige Chef einer Stadt an einem Tag wie diesem nicht an seinem Arbeitsplatz sein kann. Ich habe kein Verständnis. Wie eine Löwin tigere ich durch die Wohnung.
16.3. – Durch eine Pressemitteilung erfahre ich, dass der Rüstungskonzern „Rheinmetall“, der in meiner Stadt seine Zentrale hat, Geschäfte mit Russland gemacht hat. Wie im Fieber durchforste ich alle Presse-Archive und Geschäftsberichte dieses Konzerns. Das Grauen wächst von Pressemitteilung zu Pressemitteilung. Beim darauffolgenden Abendessen schäme ich mich. Ich schaue vielleicht gerade in die Augen von Menschen, die um ihre Angehörigen bangen, die gerade mit Waffen und Panzern bedroht werden, die in meiner Stadt hergestellt bzw. vertrieben wurden. Ich hasse den Kapitalismus mehr denn je. Ich hasse den Kapitalismus, weil er keine Moral, keine Ethik hat, weil Geld sein einziges Kriterium ist und weil für den Kapitalismus alles ein Markt ist. Auch der Krieg.
Der Glaube ist noch in der U-Bahn
17.3. – Ich denke an Olena und Ivan, wie sie da im Bunker sitzen, und denke an die beiden Männer von Lina und Tatjana, die an unterschiedlichen Orten im Land die Ukraine verteidigen. Von Tatjana erfahre ich, dass es allen gut geht, dass allerdings die Lebensmittel in den Supermärkten von Kiew bereits knapp sind – Olena und Ivan aber keine Möglichkeit mehr hätten, Kiew zu verlassen. Die Stadt sei eingekesselt, teilt mir die Übersetzungs-App mit, wobei sie für „Einkesselung“ das Wort „tot“ benutzt. Man braucht viel Imagination bei dieser App, um zwischen den Zeilen zu lesen. Mein Name „Vera“ übersetzt die App immer mit „Glaube“. Immer muss ich lachen, wenn ich in unserer Telegram-Gruppe die Chatverläufe mit dem Bot übersetze und Sätze lese: „Wo ist der Glaube?“ - „Der Glaube kommt gleich nach Hause. Der Glaube ist noch in der U-Bahn“. Mein Lieblingssatz ist aber: „Glaube, du musst essen! Das steht Essen auf dem Herd für dich!“
18.3. – Ich gehe in einen Bio-Supermarkt und kaufe Müsli und Walnüsse. Als ich die Walnüsse auf das Band an der Kasse lege, lese ich „Herkunft: Ukraine“. Ich entferne mein Müsli und die Nüsse vom Kassenband und gehe noch einmal zurück. Ich räume das komplette Walnuss-Kontingent aus dem Regal und kaufe acht Packungen ukrainische Walnüsse. Als ich die Nüsse Tatjana überreiche, beginnt sie zu weinen und erzählt von ihren Walnuss-Bäumen im Garten. „Deshalb“, tippe ich in die Übersetzungs-App, „Тому що“, „Tomu schtscho“.
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19.3. – Seit Lina, Tatjana, Dani und Arina bei uns wohnen, befinden sich keine Krümel mehr unter unserem Tisch. Die Küche ist immer aufgeräumt und alles ist an seinem Platz. Selbst der Keller ist geputzt. Und auch die Unkräuter im Garten haben bei Tatjana keine Chance. Ich erinnere mich daran, dass wir immer ein großes WG-Haus gründen wollten, in dem sehr viele Menschen wohnen und wo man sich die Arbeit und die Freuden um Haus, Kind und Hof teilt. Eine schöne Erinnerung, die jetzt plötzlich wieder lebendig wird.
Der Krieg ist bei uns eingezogen
20.3. –
Seitdem Lina, Tatjana, Dani und Arina bei uns eingezogen sind, ist auch der Krieg bei uns eingezogen. Wir können uns ihm nicht mehr entziehen. Und wie ein Damokles-Schwert schwebt der mögliche Verlust eines Familienangehörigen auch über unseren Köpfen.
Die Offenheit gegenüber unseren neuen Familienmitgliedern hat auch eine neue Geschlossenheit gegenüber Freunden und der eigenen Familie mit sich gebracht. Auch wenn wir getrennte Wohneinheiten haben und somit voneinander Auszeit nehmen können, so sagen wir alle sozialen Verpflichtungen und Treffen mit Freunden ab. Die erhöhte Emotionalität ermüdet uns schneller denn je. Abends fallen wir todmüde ins Bett.
21.3. – Heute ist Danis erster Schultag. Wir haben es tatsächlich geschafft, ihn in die Klasse unseres Sohnes Jim zu schleusen. Jim ist in einer jahrgangsgemischten Stufe, in der Kinder von der 1. bis zur 4. Klasse gemeinsam unterrichtet werden. Es ist schön zu sehen, wie Jim, unser Jüngster und Jacob plötzlich Verantwortung für ihren neuen großen Bruder Dani übernehmen, der in der Ukraine jetzt in die 4. Klasse gehen würde. An Danis erstem Schultag begleiten Lina und ich die Jungs bis zur Klassentür. Die Schulleiterin und die Klassenlehrerin begrüßen uns persönlich und stellen sich Lina und Dani vor. Nicki, eine andere Viertklässlerin, spricht Russisch. Sie ist unsere und Danis Rettung. Nicki hat eine kleine Geschenktüte für Dani vorbereitet, die sie Lina stolz überreicht. Als Dani den Klassenraum betritt, ist alles für ihn vorbereitet. Dani sitzt neben Jim und Nicki. „Alles ist gut“, tippe ich in die Übersetzungs-App, wenngleich ich eigentlich etwas ganz anderes sagen will. Lina und ich schauen uns an und brechen in Tränen aus. „Ich mache dann mal die Tür zu“, sagt die Klassenlehrerin mit einem Lächeln. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag“.