MissbrauchsskandalBonner Theologe Norbert Lüdecke rechnet mit dem „System Kirche“ ab
Köln – „Empört euch!“, lautete vor ein paar Jahren der Titel eines vieldiskutierten Essays. Wie von selbst hat sich erneut Empörung eingestellt, als die Deutsche Bischofskonferenz Ende September ihre Studie zum sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Kleriker veröffentlichte. Doch die emotionale Reaktion innerhalb und außerhalb der Kirche tendiert dazu, nach kurzer Aufwallung auch schnell wieder abzuflauen und nicht viel mehr als schales Missbehagen zu hinterlassen.
„Beruhigung durch beharrliche Verharmlosung“
Dagegen ist jetzt der Bonner Kirchenrechts-Professor Norbert Lüdecke mit dem bisher vielleicht schärfsten Angriff auf Problemverdrängung und Reformverweigerung des „Systems Kirche“ angetreten. „Die katholische Kirche ist Spezialistin in Sachen Beruhigung durch beharrliche Verharmlosung, Vernebelung und erschöpfendes Aussitzen“, warnte Lüdecke in der vorigen Woche auf der Tagung einer Initiative von Missbrauchsopfern im Bistum Trier. Unverkennbar provokativ zwang Lüdecke seine Zuhörer, aber auch alle Katholikinnen und Katholiken, denen – noch – an ihrer Kirche liegt, in eine Dilemma-Situation: „Sie müssen sich entscheiden, was für Sie mehr zählt – Ihre kirchliche Vernabelung oder der Druck, den Kardinal Reinhard Marx als notwendig anzeigt. Wenn Sie effektive Mittel scheuen, etwas an dem zu ändern, über das Sie sich empören, dann sollten Sie auch damit aufhören und sich mit der »Übergriffigkeit des Systems« abfinden.“
Wer an dieser Stelle seufzen sollte, „was kann ich allein denn schon ausrichten?“, dem nennt der Kirchenrechtler zwei „wesentliche Ressourcen, über die Gläubige selbst verfügen“: ihr Geld und ihre „geldwerte Humanressource“, sprich: ihr Engagement. Lüdecke spielt den Gedanken durch, dass Kirchenaustritte oder der Ausstieg aus Ehrenämtern tatsächlich einen bisher nicht gekannten Druck auf „das System“ machen würden. Aber er formuliert seine Skepsis gleich mit, dass es so kommt, weil Kirche und Glaube für viele Katholikinnen und Katholiken zusammengehören und sie das Empfinden hätten, „bestehende Strukturen mit ihren lebensfeindlichen Effekten zutiefst abzulehnen und doch nicht von der Kirche lassen zu können.“
Liste skandalöser Mängel
Als Theologe, der nicht zuletzt im kirchlichen Auftrag an einer staatlichen Universität lehrt, weiß Lüdecke auch, dass seine Überlegungen etwas von Steinewerfen im Glashaus haben. Aber vielleicht genügt es ja schon, wenn Bischöfe und andere Verantwortliche beim Blick durch die Scheiben die Steine liegen sehen. Deshalb liegt die eigentliche Brisanz von Lüdeckes Debattenbeitrag in einer Mängelliste, die ein skandalöses Beharren der Kirche auf Bestimmungen und Strukturen belegen, welche sexuellen Missbrauch nicht nur nicht verhindern helfen, sondern ihn begünstigen oder gar fördern. „Die fehlenden Konsequenzen“, sagt Lüdecke mit Blick auf die Bischöfe, „lassen Zweifel an ihrer Reue aufkommen“.
Beste Nahrung für diesen Zweifel liefert das katholische Kirchenrecht, das den sexuellen Missbrauch Minderjähriger immer noch als „vergleichsweise leichten Verstoß gegen die Zölibatspflicht“ wertet und die kanonische Strafe weitgehend dem Ermessen eines kirchlichen Richters überlässt. Will dagegen ein Priester heiraten, verliert er automatisch sein Amt und jedwede geistliche Befugnis.
Weiter geißelt Lüdecke eine Mentalität, die sich mit dem kirchenrechtlichen Ehemindestalter von 14 (Mädchen) bzw. 16 Jahren (Jungen) verbindet: „Missbrauchstäter wissen, dass Sex mit Kindern nicht in Ordnung und strafbar ist. Die innere Hemmung überwinden sie auch durch sogenannte Wahrnehmungsverzerrungen. Häufig imaginieren sie Kinder und Jugendliche als sexuell gleichberechtigte Partner.“ Gleichwohl „verhallen Forderungen nach einer Anhebung des kirchlichen Mindestalters bislang ungehört“.
Als mindestens ebenso problematisch charakterisiert Lüdecke die Ausbildung der künftigen Kleriker in Priesterseminaren und die Theologie des Weiheamtes. Sie fördere ein Gefühl von Absonderung und geistlicher Erhabenheit. Zudem sei „erste und oberste Klerikerpflicht und Erziehungsziel der Gehorsam.“ Hart ins Gericht geht Lüdecke sodann mit dem „institutionellen Schweigen“ der Kirche zu allem, was mit Missbrauch und mit den Tätern zu tun hat. Sexualdelikte von Klerikern müssten auf Weisung Roms noch immer „Top Secret“ behandelt werden.
Lüdeckes Text kann als Anleitung gelesen werden
Dagegen hilft, so die Quintessenz, nur eine „Kultur der Verantwortung“, in der die Gläubigen ihren jeweiligen Bischof „konkret und nachhaltig“ dazu befragen, wie er sich zu den bekannten und benannten Missständen stellt und woran er selbst es hat fehlen lassen. „Eine Antwort schuldet ein Bischof rechtlich weder den vielen, nicht zuletzt durch das Schweigen der Bischöfe unter Generalverdacht arbeitenden Priestern noch erst recht uns Laien. Aber daran, ob er in der Ich-Form und konkret antwortet oder nicht, werden Sie erkennen, was es bedeutet, sein Amt sei Dienst.“
Ein Text, der als Anleitung dafür gelesen werden kann, wie sich eine – letztlich folgenlose – „Entrüstung als Erregungszustand“ in eine Haltung des Aufstands oder „der Rebellion“ überführen lässt. Dass sie unausweichlich ist, wenn es zu Veränderungen kommen soll, zeigen erste überdeutliche Reaktionen des Herunterredens und Abwiegelns. In geschlossener Runde reden manche Kirchen-Obere ihre eigene Studie inzwischen schon als „Lug und Trug“ herunter.
Dagegen steht Norbert Lüdeckes grimmiges Wort zwischen Mahnung, Drohung und Ermutigung: „Wir alle werden die Kirche haben, die wir verdienen.“
Hier ist Norbert Lüdeckes Beitrag in voller Länge nachzulesen.