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Islamwissenschaftler„Wir brauchen das Recht auf individuelle Selbstbestimmung“

Lesezeit 6 Minuten

Der Leiter des Zentrums für islamische Theologie, Mouhanad Khorchide, aufgenommen am 19.02.2014 in Münster

  1. Mouhanad Khorchide, Autor des Buches „Gottes falsche Anwälte“, geht darin hart mit dem islamischen Gelehrten ins Gericht.
  2. Der Islam habe sich jahrhundertelang in die falsche Richtung entwickelt, glaubt der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie in Münster.
  3. In seinem Buch fordert er nun eine neue Lesart der Quellen des Islam – und hat Hoffnung, dass sich eine neue Strömung langfristig durchsetzen wird.

In seinem neuen Buch „Gottes falsche Anwälte“, das am 13. Juli erscheint, geht der Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide hart mit den islamischen Gelehrten ins Gericht. Der Theologie wirft er vor, die spirituelle Botschaft des Koran schon vor Jahrhunderten verraten und die islamischen Gesellschaften in ein Korsett aus Unterwerfung und Unmündigkeit gesteckt zu haben.

Im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) fordert der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie der Uni Münster grundlegende Reformen.

Herr Khorchide, aus Ihrer Sicht hat sich der Islam jahrhundertelang in die falsche Richtung entwickelt. Sie sprechen von einer „manipulierten Religion“. Wie meinen Sie das?

Die islamische Theologie ist ein Spiegelbild der politischen Verhältnisse ihrer Zeit. Schon 30 Jahre nach Mohammeds Tod begann unter den Omayyaden die lange Epoche der Kalifendynastien. Die Kalifen verstanden sich als Stellvertreter Gottes auf Erden, Staat und Religion wurden eine Einheit. Um ihren politischen Machtanspruch zu legitimieren, förderten sie eine Theologie, die ein streng autoritäres Gottesbild erschuf. Allah wurde zu einem strafenden Wesen, das totalen Gehorsam und Unterwerfung fordert – genau wie die politischen Machthaber. Von Gottes Liebe und Barmherzigkeit blieb nicht mehr viel übrig.

Aber entspricht dieses Gottesbild nicht dem Koran? Die Beschreibung der Höllenqualen für Frevler und Ungläubige füllen dort ganze Seiten.

Viel zahlreicher sind doch die Koranstellen, die Allahs Liebe, seine Bereitschaft zur Vergebung und den Wunsch nach Frieden unter den Menschen bezeugen. Die wurden aber von den Theologen nicht in den Mittelpunkt gestellt. Stattdessen konzentrierten sie sich auf Aussagen, aus denen sich hierarchische Unterwerfungsstrukturen ableiten ließen: die Unterwerfung der Untertanen unter den Herrscher, der Frau unter den Mann, der Kinder unter den Vater, der Nichtmuslime unter die Muslime. Das Patriarchat wurde sozusagen von oben nach unten durchgereicht. Diese Strukturen ziehen sich bis heute durch die meisten islamischen Gesellschaften und verhindern Demokratie und individuelle Freiheit. „Islam“ wird zwar oft mit „Unterwerfung“ übersetzt, doch eigentlich meint der Begriff „Hingabe“, nämlich an Gott.

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Mohammed selbst gilt allerdings auch als politischer Herrscher, der Kriege führte und Gehorsam einforderte.

Das war aber nicht sein Kernanliegen, sondern ergab sich aus den historischen Zwängen seiner Zeit in Medina. Mohammeds eigentliche Botschaft zielte auf die Spiritualität des Individuums, auf dessen persönliche Beziehung zu dem einen Gott, auf ethische Prinzipien und eine gerechte Gesellschaft. Das müsste eine Reform des Islam wieder freilegen. Die Prophetengeschichten entstanden erst über 200 Jahre nach seinem Tod und wurden politisch überfrachtet. Das gilt erst recht für die Hadithe, die Überlieferungen von Taten und Aussagen Mohammeds. Viele davon wurden in den ersten islamischen Jahrhunderten schlicht erfunden oder verfälscht. Neben dem Koran bilden sie aber die wichtigste Quelle der Scharia, die von den theologischen Schulen bis ins neunte Jahrhundert christlicher Zeitrechnung entwickelt wurde.

Und deren intolerante und diskriminierende Bestandteile wohl das Kernproblem für einen zeitgemäßen Islam bilden, wie Sie ihn fordern.

Das Problem liegt generell darin, dass Glaube und Frömmigkeit im Mehrheitsislam an der Befolgung von Regeln festgemacht werden. Wenn ein Muslim heute sagt, ich möchte religiöser werden, meint er vor allem: Ich werde die Gesetze der Scharia strenger befolgen. In den meisten Koranschulen und Freitagspredigten geht es nach meiner Wahrnehmung viel zu oft um diese Regeln und Gesetze und zu wenig um die Ethik von Liebe und Barmherzigkeit. Die Scharia gilt als Inbegriff des wahren Islam und wird von „rechtgläubigen“ Muslimen verteidigt, selbst wenn sie dadurch benachteiligt werden.

Haben Sie ein Beispiel?

Nehmen Sie die Ansicht vieler muslimischer Frauen, dass es keine weiblichen Imame geben darf, weil es gegen die Religion wäre. Im Koran steht davon aber nichts. Auch den Zwang zum Kopftuch oder eine Rechtfertigung für die allgemeine Diskriminierung von Frauen in der islamischen Welt finden Sie dort nicht. Sie werden aber von vielen akzeptiert und religiös begründet.

Auch in der katholischen Kirche dürfen Frauen keine Priester werden. Überhaupt bestanden viele dieser „Unterwerfungsstrukturen“ über Jahrhunderte auch im christlichen Abendland und wurden von der Kirche unterstützt. Wo liegt der spezifisch islamische Unterschied?

Der Islam hat eine andere Geschichte, er kennt keine Kirche und erlebte keine Reformation und keine Aufklärung, die im Westen zur Emanzipation des Individuums und zur Demokratie geführt haben. Begünstigt wurde das durch die Trennung von Kirche und Staat. Doch selbst die katholische Kirche hat im 20. Jahrhundert große Reformen durchgeführt und sich der modernen Welt angepasst, wenn auch ohne Frauenpriestertum. In den meisten islamischen Ländern dagegen prägt die religiöse Tradition bis heute das gesamte Leben direkt oder indirekt. Fast überall geben konservative Gelehrte mit rückwärtsgewandten Fatwas den Ton an und behaupten, damit den echten Islam zu verteidigen. Die alten, theologisch geschaffenen Unterwerfungsstrukturen können sich so halten. Eine islamische Reform muss viel stärker das Recht des Individuums auf Selbstbestimmung in den Vordergrund stellen.

In Ihrem Buch fordern Sie eine neue Lesart der Quellen des Islam, allen voran des Koran. Ist das nicht Wunschdenken?

Ich sehe Entwicklungen in die eine wie die andere Richtung. Einerseits nimmt der Einfluss des politischen Islam und seiner Unterwerfungsstrukturen zu. Auch in Deutschland. Die Ideologie der radikalen Muslimbrüder ist in einigen Islamverbänden durchaus vertreten und wird aus dem Ausland gefördert. Diesen Kräften geht es nicht um die Integration der Muslime, sondern um den Erhalt dieser seit Jahrhunderten anerzogenen Muster von Unterwerfung. Es ist perfide, wenn sie sich dabei auf die Religionsfreiheit berufen und sich als Opfer von „Islamophobie“ darstellen.

Und wo sehen Sie Hoffnung?

Es gibt durchaus Impulse für eine reformorientierte Theologie, sogar in Saudi-Arabien, dem Land, das für die Muslime weltweit wegen der Heiligen Stätten besondere Bedeutung hat. Aber auch bei Gelehrten in Tunesien, Marokko oder Indonesien. Das sind wenige Theologen, die sich für eine konsequente Spiritualisierung des Islam einsetzen. Leider geschieht das nicht so sehr an der maßgeblichen Azhar-Universität in Kairo. Aber die Bewegung, die ich mir wünsche, muss gar nicht so sehr von oben kommen, sondern in den Köpfen und Familien der breiten Masse der Muslime stattfinden. Hier braucht es ein gesellschaftliches Umdenken. Das macht die Sache so schwierig, weil dieser sozio-kulturelle Wandel ein hochemotionales Thema ist und eigentlich auch demokratische Strukturen braucht, die es in der islamischen Welt kaum gibt. Doch ich beobachte schon, dass immer mehr Muslime eine autoritäre und gewaltbejahende Interpretation ihrer Religion zunehmend ablehnen und den Islam als rein ethische und spirituelle Botschaft verstanden wissen wollen. Es wird aber dauern, bis sich diese Strömung gegen die traditionelle Sichtweise durchsetzen kann. (kna)