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Schämen Sie sich, Herr Seehofer!Auch populistische Politiker sind schuld am Rassismus

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Blumen und Kerzen sind am Marktplatz aufgestellt worden.

  1. Dass ein Politiker wie Innenminister Horst Seehofer nach dem Anschlag in Hanau jetzt in der ersten Reihe der Trauernden steht, findet unsere Gastautorin Renan Demirkan unerträglich.
  2. Denn seine Aussagen über Migration – wir erinnern uns: „Die Migration ist die Mutter aller Probleme” – stehen für sie sinnbildlich für populistische Sprüche, die das gesellschaftliche Klima aufgeheizt und mitvergiftet haben.
  3. Auch andere Politiker entwerfen Horrorszenarien. Damit muss Schluss sein, sagt die Autorin und Schauspielerin – und stellt noch weitere Forderungen.

Offensichtlich grassiert in unserem Land nicht nur die „Blindheit auf dem rechten Auge“, sondern auch der Gedächtnisschwund, was rassistische Morde betrifft. Seit den 1990er Jahren heißt es immer wieder, wie von einer Trauer-CD abgespult: „Ab heute ist nichts mehr wie davor.“ Jedes Mal. Nach Solingen. Nach Mölln. Nach Rostock-Lichtenhagen. Nach den NSU-Morden. Nach München, Dessau, Kassel. Und seit der Nacht auf den 20. Februar in Hanau schluchzen die Berufstrauernden nun schon wieder in alle Mikrofone, dass „nichts mehr so ist wie vorher“. Ich will diesen Satz nicht mehr hören – von keinem Politiker, keinem Journalisten und keinem Wissenschaftler.

Wann nennt Ihr die Dinge endlich beim Namen? Der Rassismus ist mitten unter uns. Der Faschismus ist zurück mit einer neuen Generation von Nazis. Und auch sie wollen mit aller Gewalt die offene Gesellschaft und die Demokratie abschaffen.

Es waren und sind nicht einfach „Einzeltäter“, wie das nun seit fast drei Jahrzehnten von allen Wegsehern und Leugnern abgespult wird. Dass es ein verbindendes perfides Denken gibt, einen Zusammenhang des Hasses und des Verbrechens, das habe ich jahrelang am eigenen Leib erlebt. Ich rede nur nicht im Detail darüber, weil ich den Hassern keinen Raum geben will – und weil es glücklicherweise für mich nie einen Grund gab, am Rechtsstaat zu zweifeln.

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Mit Meinungsfreiheit hat das nichts zu tun

Aber seht es endlich ein: Wir haben es mit Rassisten zu tun, Menschenverächtern, Mördern und politischen Kriminellen. Sie produzieren ein giftiges Amalgam aus Unsicherheit und Angst. Sie sind in gewaltbereiten „Bruderschaften“ konspirativ vernetzt mit ihren ewiggestrigen, kranken Männerfantasien von einer „reinen Nation“, von einer „starken Führung“, von Dominanz, von Verachtung für Frauen, von „Säuberung“ und „Selektion“ mit Gewalt. Und sie haben mittlerweile nicht einmal mehr Hemmungen, das alles laut im Parlament und in Talkshows zu sagen. Mit Meinungsfreiheit hat das nichts zu tun. Was sich dieses rassistische Syndikat zusammenschreibt, ist Hetze, ist Hass, ist verfassungswidrig – und damit ein Verbrechen gegen die Allgemeinheit. Warum wurden und werden die Provider nicht längst zur Rechenschaft gezogen – dafür, dass sie solchem Gedankengut nicht nur Raum bieten, sondern es auch verbreiten?

Menschen werden nicht als Rassisten geboren

Kein Mensch wird als Rassist geboren, sondern er wird dazu gemacht. Menschen lenken und begleiten Menschen auf rassistische Abwege – durch ihre Sprache, ihre Gesten, ihr Handeln. Selbst christliche Abgeordnete und Sozialdemokraten haben legitimiert, was nicht zu legitimieren ist. Und durch ihre Grenzüberschreitungen animieren sie zur Nachahmung.

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Ich will drei Verirrungen nennen, die dann auch von den Mördern verwendet worden sind: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“ Selbst Politiker der CSU posaunten das noch vor Kurzem in den Parlamenten. Unter dem Titel „Deutschland schafft sich ab“, entwarf ein SPD-Politiker, den seine Partei bis heute nicht losgeworden ist, das Horrorszenario einer „Überfremdung“. Und der Innenminister behauptete am Beginn seiner Amtszeit, „Migration ist die Mutter aller Probleme“ – wohl kalkulierend, dass er die politische Konkurrenz rechts überholen könnte.

Schämen Sie sich eigentlich nicht, Herr Seehofer, wenn Sie heute mit in der ersten Reihe der Trauernden stehen und jetzt davon reden, dass der Rechtsextremismus die größte Bedrohung für die Gesellschaft sei. Ich habe 2018 Ihren Rücktritt gefordert. Aber Sie sind geblieben – und übernehmen heute das Wort Angela Merkels, „Rassismus ist Gift“. Ich habe nicht vergessen, wie respektlos und demütigend Sie die CDU-Vorsitzende auf dem CSU-Parteitag behandelt haben – zum fortdauernden Jubel aller Rechten. Und warum? Weil die Kanzlerin angesichts des Leids von Flüchtenden darauf vertraut und gesagt hatte, „wir schaffen das“. In historischer Perspektive wird das einmal als die größte Geste ihrer Amtszeit gelten, randvoll gefüllt mit einer Menschlichkeit, die bis in die eigenen Reihen hinein diskreditiert wurde.

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Es gibt einen roten Faden von der laut tönenden „Werteunion“ mit ihren nur scheinbar weichgespülten rechtskonservativen Parolen zur offen rassistischen „AfD“, die ich nur in Anführungszeichen geschrieben ertrage, weil sie für mein Land niemals eine Alternative sein kann. Deutschland braucht keine „Werteunion“. Wir haben die Werte unserer Verfassung. Sie gilt es in einem gesellschaftlichen Zusammenschluss aller demokratischen Kräfte lebendig zu halten, zu schützen und entschlossen zu praktizieren, wenn sie torpediert werden.

Beginnen wir mit Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wiederholen wir diesen großen Satz – täglich, überall dort, wo er in Vergessenheit zu geraten droht: in Behörden, in Jobcentern oder in Krankenhäusern; beim Abschluss von Mietverträgen oder Anstellungsverträgen; in Predigten der Religionsgemeinschaften; am Arbeitsplatz; bei Gesetzen über Teilhabe, Bildungs- und Chancengleichheit. Wiederholen wir Artikel  1 besonders auch dann, wenn es die Solidarität mit den Schwachen betrifft: mit den Armen, den Kranken und Obdachlosen; mit den Geflüchteten; den Alten und – nicht zu vergessen – mit unseren Kindern.

Die Würde jedes Einzelnen ist heilig und muss uns heilig bleiben. Damit der Rassismus keine Chance hat in unserem wundervollen Staat, und damit wir endlich so leben können, wie wir es lieber haben: einzeln, frei wie ein Baum – und geschwisterlich wie ein Wald.