Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Interview

Politologe zur Wahl
„Die Parteien haben sich selten so konträr präsentiert“

Lesezeit 4 Minuten
Der CDU-Vorsitzende und Unionskanzerkandidat Friedrich Merz beklatscht den Erfolg seiner Partei in der Bundestagswahl.

Der CDU-Vorsitzende und Unionskanzerkandidat Friedrich Merz beklatscht den Erfolg seiner Partei in der Bundestagswahl. 

Norbert Kersting nennt ein Beispiel, wie Parteien mit gegensätzlichen Positionen zu einer funktionierenden Regierung gelangen können.

Herr Professor Kersting, an einem Wahlabend mit etlichen Unbekannten und Variablen – was ist für Sie in der Analyse der Ergebnisse das sicherste Moment?

Norbert Kersting: Die CDU/CSU hat – wie erwartet – den Regierungsauftrag. Ich habe bei den Siegern aber auch betretene Mienen ausgemacht, weil man sich ein Ergebnis deutlich über 30 Prozent versprochen hatte. Das war immer die magische Marke. Friedrich Merz hat mit seinem Wahlkampf etwas geschafft, was ich mal „asynchrone Mobilisierung“ nennen möchte.

In Anspielung auf die Taktik Angela Merkels, die Anhänger des gegnerischen Lagers zu demobilisieren.

Alles zum Thema Angela Merkel

Ja, Merz hingegen hat – und das ist schon faszinierend – für starke Ergebnisse an beiden Rändern des Parteienspektrums gesorgt, am überraschendsten aufseiten der Linken, die vor den Ereignissen im Bundestag, als die Union gemeinsam mit der AfD abgestimmt hat, lange nicht so stark war wie am Wahlabend.

Und jetzt?

Der Wahlkampf ist vorbei. Jetzt ist die Zeit der Kompromisse. Am besten wäre es, wenn es nur zwei Parteien für ein Regierungsbündnis bräuchte.

Die Ampel als erste Dreier-Koalition auf Bundesebene hat sich nicht gerade als Modell empfohlen.

Genau, eine solche Konstellation ist problematisch, wenn die Partner aus völlig unterschiedlichen Lagern kommen. Aber auch in einem Zweierbündnis braucht es einen Politikertypus wie Angela Merkel, die mehrere Koalitionen unterschiedlicher Couleur sehr gut gemanagt hat. Es war ja das größte Problem der Ampel, dass die Partner nicht miteinander klargekommen sind, die FDP das Festhalten an der Schuldenbremse über alles gestellt und damit dann die Handlungsfähigkeit der Regierung insgesamt aufs Spiel gesetzt hat. Der Absturz der drei Ampelparteien in der Wahl war die folgerichtige Quittung dafür.

An die Schuldenbremse muss Merz dringend ran.
Professor Norbert Kersting

Mehr Merkel wagen – als Empfehlung an den Merkel-Antipoden Merz?

Er wird gerade bei den Themen Wirtschaft und Infrastruktur Zugeständnisse machen müssen. An die Schuldenbremse muss Merz dringend ran. Man braucht Sondervermögen, um die großen Anstrengungen finanzieren zu können. Stichwort: Verteidigungsausgaben, aber auch Sicherung des Standorts Deutschland als Exportnation.

Im Wahlkampf hat Merz sich vor allem kompromisslos, unnachgiebig und scharf im Umfang mit den anderen Parteien gegeben. Ist sein Ego womöglich sein größtes Problem?

Es gibt ja den Spruch: Der Verstand kommt mit dem Amt. Bisher hat Merz noch kein Regierungsamt gehabt. Er war immer ein klassischer Parlamentarier, der Dinge auf den Punkt bringen kann, aber auch keine Verwandten kennt und sich rigoros auf den politischen Gegner einschießt. Diesen Habitus muss er jetzt ganz schnell ablegen, wenn er als Kanzler Erfolg haben will.

Migration ist nicht der Grund, warum unsere Infrastruktur so schlecht dasteht.
Professor Norbert Kersting

Die Grünen haben von allen drei Ampelparteien vergleichsweise am wenigsten verloren, obwohl die Union sie als Hauptgegner attackiert hat. Wie erklären Sie sich das?

Im Wahlkampf haben CDU/CSU und AfD die Migration als „das“ große Problem dargestellt. Aber Migration ist nicht der Grund, warum unsere Infrastruktur so schlecht dasteht, warum unsere Industrie nicht vorankommt und die Exporte stagnieren und das Land entsprechend schlecht aufgestellt ist. Zudem besetzen die Grünen nach wie vor das Thema Nachhaltigkeit, das für einen Teil der Wähler wichtig bleibt, auch wenn es im Wahlkampf nicht so sehr die Rolle gespielt hat.

Welche Rückschlüsse können Sie aus Ihrem „Wahlkompass“ ziehen?

Die Parteien haben sich programmatisch selten so konträr präsentiert wie dieses Mal. Damit haben sie sich aber von dem entfernt, was ihre Wähler denken. Unionswähler wären zum Beispiel sehr wohl zu Reformen der Renten- und Krankenversicherung bereit, die ihre Partei ablehnt. In Nordrhein-Westfalen konnte man übrigens exemplarisch sehen, wie eine Regierung programmatische Gegensätze in der Praxis überwinden und zu einer pragmatischen, funktionierenden Politik kommen kann: Da war die CDU vor der Landtagswahl gegen mehr Windkraft und gegen Solarpanels auf den Dächern. Als dann Schwarz-Grün kam, ist man im Grunde auch den eigenen Wählern, die das auch wollten, entgegengekommen und hat gesagt: Okay, dann machen wir eine Koalition, die auch solche Zukunftstechnologien in den Vordergrund rückt.

Die Übereinstimmungen liegen am ehesten im Bereich der Außenpolitik.
Professor Norbert Kersting

Wie sieht es denn mit möglichen Schnittmengen in der demokratischen Mitte aus?

Bei der Ampel beschränkte sich das, wenn man es einmal pointiert sagen will, vor vier Jahren auf die Legalisierung von Cannabis. In der Koalition haben dann vor allem die Grünen gelernt, nachzugeben und damit tatsächlich Regierungsverantwortung zu übernehmen. Heute liegen die ebenfalls wenigen Übereinstimmungen zwischen Schwarz und Rot am ehesten im Bereich der Außenpolitik – etwa bei der Unterstützung der Ukraine oder in Bezug auf höhere Verteidigungsausgaben.

Wie erklären Sie sich den dann doch erstaunlichen Erfolg der Linkspartei, außer mit der „asynchronen Mobilisierung“ durch Friedrich Merz?

Ähnlich wie die AfD hat die Linkspartei eine enorme Präsenz in den sozialen Medien und insbesondere auf TikTok. Die anderen Parteien mögen inzwischen auf Instagram angelangt sein, aber die jungen Wähler erreichen Sie dort in der großen Masse nicht.