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Nachbar RusslandsFinnland in der Nato – Deshalb war der Beitritt lange undenkbar

Lesezeit 4 Minuten
Finnische Reservisten prüfen Magazin ihrer Gewehre bei einer Militärübung.

Finnische Reservisten bei einer Militärübung.

Bis vor 106 Jahren war Finnland Teil des Russischen Reichs, später stand es Russland nahe. Der heutige Beitritt zum Nato-Verteidigungsbündnis ist daher historisch.

Experten diskutierten kürzlich im russischen Staatsfernsehen, ob Moskaus Militär nach der Ukraine jetzt auch Finnland „befreien“ solle oder nicht. Das scheint vermessen, wo doch die russische Aggression gegen die Ukraine alles andere als planmäßig verläuft.

Aber Russland zählt Finnland zum erweiterten Einflussgebiet, was man aus der Geschichte herleitet. Denn nur wenigen ist bewusst, dass Finnland noch bis vor 106 Jahren ein Teil Russlands war, wenn auch mit weitgehender Autonomie.

Doch abgesehen davon: Allein die Tatsache, dass Russland direkter Nachbar Finnlands ist – beide teilen sich eine über 1300 Kilometer lange Landgrenze – sich in die Nato und damit ins Lager „des Feindes“ begibt, ist für kremlnahe Experten Grund genug, über militärische Interventionen zu diskutieren.

1809 war Finnland dem Russischen Reich angegliedert worden, 1917 erlangte es in den Revolutionswirren seine Unabhängigkeit – ein fragiler Zustand. Immer wieder weckte das skandinavische Land Moskauer Begehrlichkeiten. So zum Beispiel 1939, als Sowjetdiktator Josef Stalin Finnland überfiel. Allerdings scheiterte er zunächst militärisch, ehe die Sowjetarmee 1944 zur Revanche ausholte und im Anschluss dauerhaft Teile der Region Südkarelien annektierte.

„Das war der Moskauer Versuch, Finnland komplett unter Kontrolle zu bekommen“, sagt der Politologe Dr. Tobias Etzold, Senior Research Fellow mit Schwerpunkt Sicherheit in der Arktis am Norwegischen Institut für Außenpolitik in Oslo, im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Eine Nato-Mitgliedschaft wäre früher von Russland niemals akzeptiert worden

Auf diese permanente Bedrohung reagierte Finnland in der Nachkriegszeit mit einer geschickten, Kritiker würden auch sagen: mit einer devoten Diplomatie gegenüber dem Kreml. „Als einziges westliches Land ließ es sich auf einen ‚Freundschaftsvertrag‘ mit Moskau ein, was im Endeffekt eine eingeschränkte Souveränität bedeutete“, so Etzold. In Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik sei Finnland nicht frei gewesen. Eine damalige Nato- oder EU-Mitgliedschaft wäre von Moskau nie akzeptiert worden.

Vor allem während der 25-jährigen Regierungszeit des Langzeitpräsidenten Urho Kekkonen galt Finnland vielen im Westen als Moskaus Vasall. Wegen seiner Nähe und der häufigen Interaktion mit dem Kreml wurde Finnlands Regierung im Kalten Krieg als „Bärenflüsterer“ bezeichnet.

„Finnlandisierung“ galt einst als abfällig

Sowjetische Dissidenten in dem skandinavischen Land waren vor dem langen Arm des kommunistischen Geheimdienstes KGB nicht sicher, über Kekkonens Verbindung zum Kreml wird bis heute wild spekuliert. Es entstand im Westen der Begriff „Finnlandisierung“, als Abfälligkeit für ein Land, das sich freiwillig dem Kreml unterwarf.

Ein Schild weist auf den Grenzübergang von Finnland nach Russland in Vaalimaa hin.

Ein Schild weist auf den Grenzübergang von Finnland nach Russland in Vaalimaa hin.

„Fest steht, dass Finnland mit seiner strikten Neutralität damals einen hohen Preis bezahlt hat, was politische Souveränität, aber auch wirtschaftliche Abhängigkeit von Moskau betraf, denn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 90er-Jahre musste das Land neue Märkte und Partner finden. Dafür konnte es sich aber bis heute unabhängig entwickeln“, sagte der Politologe Etzold.

Ein sehr feines Gespür im Verhältnis zum schwierigen Nachbarn

Als Opfer mehrerer russisch-sowjetischer Aggressionen im letzten Jahrhundert hat Finnlands politische Klasse ein sehr feines Gespür in seinem Verhältnis zum schwierigen Nachbarn entwickelt. Es war die Überlebensgarantie dieses Fünf-Millionen-Volkes.

„Dadurch, dass die Sowjetunion beziehungsweise Russland bereits Teile Kareliens annektiert haben, gibt es heute keine territorialen Ansprüche Moskaus an die Finnen – das ist ein Unterschied zur Situation der Ukraine, Georgiens oder Kasachstans. Andererseits haben die Finnen als ‚gebrannte Kinder‘ aber auch immer versucht, ein sehr pragmatisches Verhältnis zu Moskau zu pflegen – und jede Provokation vermieden“, sagt Experte Etzold.

Ein Mann zeigt eine Spezialabfüllung „Nato“-Bier einer finnischen Brauerei.

Ein Mann zeigt eine Spezialabfüllung "Nato"-Bier einer finnischen Brauerei.

Doch wenn die Moderatorin Olga Skabejewa im russischen TV-Kanal Rossija 1 dazu aufruft, das „Brudervolk der Finnen“ zu „befreien“, dann spricht daraus dieses Selbstverständnis bestimmter russischer Kreise, einst kolonialisierten oder einverleibten Völkern bis zum heutigen Tag ihre Souveränität abzusprechen.

„Ich kann mir vorstellen, dass sie bei anderen Ländern wie Georgien oder Kasachstan noch mal schärfer reagieren würden. Finnland gehört sicher zum erweiterten russischen Einflussgebiet, aber nie so eng wie die ehemaligen Sowjetrepubliken. Das Land ist ja bereits im Westen fest integriert. Und auch die Reaktionen aus Moskau sind seit Beginn der Nato-Beitrittsdebatte Schwedens und Finnlands vor einem Jahr überschaubar“, so Tobias Etzold.

Als Reaktion auf den für den 4. April geplanten formalen Betritt Finnlands als 31. Nato-Mitglied kündigte Russlands Vizeaußenminister Alexander Gruschko am Montag eine Verstärkung der russischen Militärkapazitäten in den westlichen und nordwestlichen Landesregionen an. Keine wirklich scharfe Reaktion, sondern eher Ausdruck der Ohnmacht.