Wie entsteht eigentlich Innovation? Frank Piller von der RWTH Aachen erklärt, warum Frustration ein entscheidender Faktor ist, Erfahrung dagegen eher hinderlich.
Innovationsforscher„Niemand bei Lindt oder Ritter-Sport hat die ‚Dubai-Schokolade‘ erfunden“
Professor Piller, Sie sind Co-Leiter des Instituts für Technologie- und Innovationsmanagement an der RWTH Aachen. Sind Sie auch Erfinder?
Frank Piller: Nein. Für die Erfindungen sind unsere Ingenieure und Naturwissenschaftler zuständig. Sie denken sich technische Problemlösungen aus. Wir Innovationsmanager wollen herausfinden, welche Probleme die Kunden haben. Genauer noch: Welche Probleme werden sie haben? Und das macht die Sache knifflig. Wir müssen also Bedürfnisse finden, von denen die Kunden noch gar nicht wissen, dass sie diese haben. Wenn man die Leute einfach fragt, sagen sie meist: Wir wollen das Gleiche, nur besser und billiger. Das aber ist ja noch keine wirkliche Innovation. Dafür brauchen wir latente Bedürfnisse, die in etwas Neues münden.
Haben Sie ein Beispiel?
Tausende. Keiner hätte je gedacht, dass man Smartphones braucht. Oder Spotify. Oder Netflix. Ein Telefon, ein Kassettenrekorder und ein Fernseher schienen uns absolut ausreichend. Aber jetzt? Fühlt es sich so an, als könnten wir ohne all das kaum leben.
Wo finden Sie diese latenten Bedürfnisse, wenn Befragungen wenig weiterhelfen?
Wir suchen dazu zum Beispiel nach den besonders fortschrittlichen Nutzern. Fündig werden kann man in einer Hacker-Community. Dort treffen sich Freaks und tauschen sich über zu lösende Probleme aus. Denken Sie zum Beispiel an Kaffeevollautomaten, die es heute auch mit Internetverbindung gibt. Auslöser war auch da eine Kaffee-Freak-Community im Netz. Die kamen auf die Idee, die Kaffeemaschine mit Sensoren auszustatten, um den morgendlichen Luftdruck in der Küche zu messen und dazu passgenau den optimalen Kaffeedruck einzustellen. Dafür bastelten sie eine Netzverbindung. Und jetzt gibt es eben smarte Kaffeevollautomaten, die sich ihre Wartungsprogramme regelmäßig aus dem Netz runterladen.
Wer sind die Innovationstreiber in der Wirtschaft?
Große, etablierte Firmen tun sich schwer, wirklich radikal zu innovieren. Sie sind oft einfach zu schwerfällig, um den Kurs zu ändern. Viele ihrer Expertinnen und Experten sind super darin, bestehende Produkte oder Prozesse zu verbessern. Oder sie billiger zu machen. Aber sie haben Mühe, wirklich um die Ecke zu denken. Nehmen Sie Schokoladenhersteller wie Lindt oder Ritter-Sport. Niemand dort hat die „Dubai-Schokolade“ erfunden. Stattdessen steckt man viel Forschung in die Verbesserung der Lindor-Kugeln oder des Schoko-Quadrats. Beides gibt es seit vielen Jahrzehnten, und die Verkaufszahlen steigen dennoch.
Warum soll ich dann wirklich ein radikal neues Produkt auf den Markt bringen? Stattdessen werden die Rezepturen dauernd verfeinert. Vielleicht tüftelt gerade jemand daran, Milch (mit hohem CO2-Abdruck) durch pflanzliche Stoffe zu ersetzen, ohne dass der Geschmack leidet. Hiervon soll der Verbraucher aber gar nichts mitkriegen – obwohl vielleicht eine große technische Innovation dahintersteht. Schließlich besteht der Erfolg von Lindt oder Ritter-Sport darin, sich auf bewährte Qualität zu verlassen, statt halbgare Innovationen am Kunden auszuprobieren.
„Vieles läuft zumindest ohne den großen Knall“
Kriegen wir von Innovationen also häufig gar nichts mit?
Vieles läuft zumindest ohne den großen Knall und verändert trotzdem richtig viel. Nehmen Sie den 3D-Druck. Davon haben Sie schon in den 1990ern gehört. Aber irgendwie ist das für alle immer noch ziemlich neu und der Verbraucher fragt sich, was ihm das im Alltag eigentlich bringt. Ich sage: Sehr viel. Denn hier handelt es sich zwar um eine Fertigungsinnovation der Industrie. Aber viele Ersatzteile, alle Hörgeräte, Zahnersatz oder andere Medizinprodukte kommen mittlerweile aus dem Drucker. Und immerhin besitzt in der Schweiz schon jeder sechste Haushalt einen 3D-Drucker.
Was machen die Schweizer denn damit?
Die meisten drucken Spielzeug. Am beliebtesten sind wohl Verbindungsstücke zwischen Lego- und Duplosteinen. Oder Figuren für die Modelleisenbahn oder andere Hobbies.
Sind Innovationen eher bei Start-ups zu Hause?
Ja, zumindest am Anfang. Das ist ja häufig ihr Existenzgrund. Später aber verlieren viele auch schnell ihre Innovationsfähigkeit. Das liegt einfach an den Prozessen. Mitarbeiter mit viel Erfahrung werden befördert. Um Neues zu erfinden, ist Erfahrung aber eher schädlich. Ich muss das Alte vergessen, um auf radikal Neues setzen zu können.
Wo entstehen die komplett neuen Ideen denn, wenn Firmen eher daran tüfteln, ihre alten Produkte zu verbessern?
Viel Innovation entsteht tatsächlich aus frustrierten Nutzererfahrungen. Denken Sie an die ganzen Trendsportarten. Beim Mountainbiking beispielsweise war es kein Sportartikelhersteller, der sich ein Rad ausgedacht hat, mit dem man leichter durchs Gebirge fährt. Es waren die Sportler selbst, die sich mit einem klassischen Rad in den Bergen übel auf die Nase gelegt haben oder einfach schlecht vorankamen. Und irgendwann hat ein technisch begabter Sportler sich in seine Werkstatt zurückgezogen und dort sein eigenes Rad zusammengebastelt. Andere Bremsen, andere Rahmengeometrie, andere Übersetzung, andere Reifen. Das haben andere mitbekommen und wollten so ein Fahrrad auch. Und schließlich hatten wir einen Mountainbike-Entrepreneur!
Auch aus der Medizintechnik gibt es diese Beispiele. Aus Frustration über die Beschwerlichkeit des dauernden Blutzuckermessens und Insulinberechnens hat ein Diabetiker, der zufällig auch Entwicklungsingenieur war, einen Glukosemonitor erfunden. Mit Sensor, Pumpe und App. Der Patient wird in Echtzeit gewarnt, wenn der Wert zu hoch oder zu niedrig ist, die Insulinmenge wird automatisch berechnet. Die Krankheit wird also viel bequemer handhabbar. Viele Jahre später haben dann große Medizintechnikkonzerne diese Idee aufgegriffen und in marktfähige Produkte für alle Patienten gebracht.
Ist der Wunsch nach Vereinfachung des Alltags ein wichtiger Treiber von Innovationen?
Auf jeden Fall. Die Auto-Abos sind dafür ein gutes Beispiel. Früher wollte man ein Auto besitzen, es vielleicht sogar mal reparieren, jedenfalls samstags polieren. Heute will man mit der teils beschwerlichen Komplexität des Besitzens gar nichts mehr zu tun haben. Man will nur fahren. Alle Pannen- und Kundendienste sollen schon abgedeckt sein. Vielen jungen Leuten ist das um die 600 Euro im Monat wert. Das Gleiche gilt für Miet-Roller oder Mob-Fleets. Auch Kochboxen sind mit diesem Versprechen, die Komplexität des Alltags zu reduzieren, sehr erfolgreich. Hier kommt vielleicht noch eine Komponente dazu: Was bleibt, ist das Gefühl, dass wir trotzdem selbst gekocht haben, dass es frisch aus der Küche und eben nicht vom Lieferdienst kommt. Hinter all diesen Modellen steht auch Innovation – allerdings wurde hier das Geschäftsmodell innoviert, nicht das Produkt.
Neue Geschäftsmodelle sind übrigens etwas, was wir Wirtschaftswissenschaftler viel besser erfinden als Ingenieure, um auf Ihre Eingangsfrage zurückzukommen. Vielleicht sind wir doch Erfinder!
Wer innovativ sein will, muss das Alte vergessen, haben Sie gesagt. Altes hat aber ja oft auch seinen Wert, hat sich bewährt. Ist Innovation denn überhaupt immer gut?
Nein, ganz und gar nicht. Innovation kann einerseits zum Selbstzweck werden. Sie ist aber nutzlos, wenn sie nicht offene Bedürfnisse der Nutzenden besser befriedigt.
Und natürlich gibt es auch gefährliche Innovationen. Bei Chemiewaffen würde jeder zustimmen. Aber auch scheinbar tolle Neuerungen können große Probleme mit sich bringen. Bei ihrer Erfindung galt die Asbestfaser als der geniale Baustoff schlechthin. Und auch heute kennen wir keinen besseren Brandschutz. Allerdings wissen wir nun auch, dass Asbest giftig ist. Es gefährdet die Gesundheit vieler Menschen und muss also überall wieder ausgebaut werden. Langfristig hatte die Erfindung der Asbestfaser also enorm negative Konsequenzen. Und selbst politische Systeme werden von Innovationen beeinflusst – ob positiv oder negativ, muss jeder selbst entscheiden.
Ohne die Erfindung der sozialen Medien und entsprechenden Geschäftsmodelle dahinter gäbe es jedenfalls keinen US-Präsidenten Donald Trump.