Geschichten aus Seniorenheimen sind oft Geschichten des Mangels. Doch ein Konzept aus NRW soll die Pflege revolutionieren.
Altenpflege der Zukunft in NRWHerr Grün steht wieder auf – Er will noch ein bisschen leben
Es gibt Tage, da wacht Klaus-Dieter Grün auf und denkt an die Ruhr. Daran, wie sie durch die Ausläufer des rheinischen Schiefergebirges gluckert, sich windet, an- und abschwillt, hier in Mülheim ihren letzten Abschnitt antritt, bis sie ein wenig flussabwärts in Duisburg nach gut 219 Kilometern endet – und das Wasser doch weiterfließt, einen Neuanfang wagt, im Rhein. Bei gutem Wetter kann er von seinem Panoramafenster aus das angrenzende Naturschutzgebiet sehen, den Fluss durch die Bäume erahnen. Klaus-Dieter Grün steht dann auf, zieht sich an, angelt nach dem Stock, der immer in Reichweite steht, und macht sich in Begleitung einer Pflegekraft auf den Weg hinab zum Ufer. Nach der Rückkehr denkt Grün oft: „Das ist mir nicht leicht gefallen. Aber ich habe es gemacht. Da bin ich stolz. Das kann ich sagen.“
Klaus-Dieter Grün lebt in der Pflegeeinrichtung Haus Ruhrblick in Mülheim an der Ruhr. Er ist 88 Jahre alt, war früher Ingenieur, Mercedes-Liebhaber, Paris-Fan, er ist zweimal verwitwet, beruflich weit herumgekommen, sogar bis nach Brasilien. Als Rentner schickte ihn das Auswärtige Amt nach China zu einer Firma, die Dampferzeuger für Kraftwerke herstellte und seine fachliche Hilfe gebrauchen konnte. Sein Körper hat schon einiges mitgemacht. Herzinfarkt, Gehirn-OP, derlei Dinge. Er ist Meister darin, wieder neu anzufangen, wenn es irgendwo zu Ende geht.
Besucher begrüßt Klaus-Dieter Grün mit den Worten: „Ich heiße Grün. Ich war dreimal tot. Ich sage es, wie es ist. Aber ich habe an mir gearbeitet. Ich war fleißig. Ich gehe den schweißtreibenden Weg.“ Grün klingt fröhlich, wenn er so redet, ein bisschen trotzig auch. Wie einer, der die Pläne für Altenheimbewohner genau studiert hat, und dann für sich entschieden hat, diese Pläne zu durchkreuzen: Im Bett liegen, gefüttert, gesäubert und gewendet werden? Nach ein paar Monaten bitte sterben, um der Allgemeinheit nicht allzu sehr zur Last zu fallen? So jedenfalls stellt Grün sich das nicht vor. „Ich kann doch noch ein bisschen leben. Das könnte sich doch lohnen.“
Pflegeheim heißt oft: Frustration, Geldknappheit, Todesfälle
Geschichten aus dem Pflegeheim sind oft Geschichten über den Mangel. Über Defizite bei den Bewohnern, Frustration bei den Mitarbeitenden, Geldknappheit und Todesfälle. Auch in den 113 Betten der Evangelischen Altenhilfe in Mülheim sind in den vergangenen fünf Jahren 160 Menschen gestorben. Aber man hat sich hier entschieden, auch andere Geschichten zuzulassen. Geschichten vom Aufstehen. Geschichten vom Vorwärtskommen. Geschichten vom Ausziehen sogar.
Zehn Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner werden hier so gut gepflegt, dass sie wieder nach Hause in die Selbständigkeit zurückkehren können. 238 Bewohnerinnen und Bewohner haben die Häuser zwischen 2015 und 2020 auf diese Weise lebend verlassen. Man erzählt hier von ehemaligen Pflegeheimbewohnern, die sich ein neues Auto, ein neues Haus kauften, gar eine neue Liebe fanden. Draußen vor der Tür. Das Pflegeheim, es ist hier nicht nur Endstation, sondern auch Ausgangspunkt für Fortschritte.
Oskar Dierbach ist zu Besuch gekommen. Er sitzt in Grüns Zimmer vor dem Fenster. Wenn er über seine Mission spricht, dann scheint ihm das Sitzen zuweilen schwer zu fallen. Er vibriert. Wie ein Topf, in dem die Suppe schon sehr lange brodelt. Dierbach hat in der Evangelischen Altenhilfe Mülheim 36 Jahre lang als geschäftsführender Pflegedienstleiter nicht nur Menschen betreut, sondern vor allem für sein Konzept gekämpft. Für die „Rückkehr der Menschlichkeit“ sagt er.
Die Widerstände waren groß. Allgemeine Forderung an Geschäftsführer sei gewesen: „Pfleg die Oma ins Bett, damit du was verdienen kannst.“ Denn die Rechnung schien einfach: Je höher der Pflegegrad, desto mehr Geld zahlt die Kasse. Je niedriger wiederum der Personalaufwand, desto mehr Geld davon bleibt übrig. Ans Bett gefesselte Bewohner, die man dreimal am Tag wendet, werden in diesem System belohnt. Dierbach sträubte sich. Die Kostenträger zürnten.
Zwischendurch habe man ihm gar gedroht: „Wenn du so weiter machst, dann nehmen wir dir die Lizenz weg. Wir streichen dir das Geld.“ Die Politik, sagt Dierbach, habe Angst davor gehabt, dass die Alten leben wollen. „Die fressen uns auf, sagte man mir.“ Zuallererst natürlich die Rendite, denn mittlerweile sind mehr als die Hälfte der Pflegeheime in Deutschland in Hand von Investoren.
Es soll nicht mehr ums Sterben gehen. Sondern um das Leben
Seit einem Jahr ist Dierbach in Rente, sein Herzensprojekt aber, die „therapeutische Pflege mit rehabilitativen Anteilen“, es scheint aufzublühen, über die Stadtgrenzen von Mülheim hinauszuwachsen. Dierbachs Konzept wird nun im Rahmen des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses unter der Leitung der AOK Rheinland/Hamburg in zwölf weiteren Pflegeheimen ausprobiert und bis 2026 wissenschaftlich begleitet.
Der Grundgedanke: Senioren aus dem Bett raus pflegen. Sie mobilisieren. Den Pflegegrad reduzieren. Es soll nicht mehr ums Sterben gehen. Sondern um das Leben. Der Paradigmenwechsel ist gewaltig. Sind die Ergebnisse positiv, könnte Dierbachs Weg irgendwann in ein Gesetz münden und dadurch zur Regelversorgung werden.
Rehabilitation ist in der Altenpflege bislang nicht vorgesehen
Bislang ist Rehabilitation in der Altenpflege nicht wirklich vorgesehen. Wenn Menschen ins Heim kommen, dann geht der Einweisung oft ein Klinikaufenthalt voraus. Ein Sturz, eine Operation. Zwar schließt sich bei derlei Ereignissen im deutschen Gesundheitssystem auch bei alten Menschen eine Reha-Behandlung an. Auf deren Bedürfnisse ist die aber bislang wenig ausgerichtet.
„Viele scheitern an der engen Taktung“, sagt Dierbach. „Stellen Sie sich vor, da ist ein Mensch, dessen Lebenspartner kürzlich verstorben ist, die Treppe runtergefallen. Nach dem Krankenhaus kommt er drei Wochen auf Reha, zu diesem Zeitpunkt ist dieser Mensch aber gar nicht in der Lage, das seelisch alles zu verarbeiten. Woher soll er so schnell die Motivation nehmen, wieder laufen zu lernen?“ Wer aber immobil aus der Reha entlassen werde, der gelte als „nicht mehr zu retten“ und komme zum Liegen ins Heim. Dort könnte man „in kleinsten Stücken“ den Menschen zwar oft wieder auf die Beine helfen. Vorgesehen sei das indes nicht. Schließlich werde das Heim von den Pflegekassen bezahlt, für Reha sei aber die Krankenkasse zuständig.
Also fehlt für Angebote, wie sie Dierbach im Kopf hatte, in den meisten Einrichtungen schlicht das Geld. Eine Umfrage der Gesellschaft für Gerontopsychiatrie hat ergeben, dass in anderen Pflegeheimen deutlich weniger als jeder Vierte Bewohner die Therapien bekommt, die in den Häusern der Evangelischen Altenhilfe Mülheim dank Dierbachs Dickschädel zum Standard wurden.
Das Gesundheitsministerium NRW räumt auf Anfrage ein, das Pflegeversicherungsrecht sei insgesamt „derzeit zu starr und muss flexibilisiert werden“. Pflege dürfe „nicht so sehr unterscheiden nach ambulant oder stationär, sondern nach den Wünschen und Bedarfen der Menschen, die gepflegt werden, unabhängig vom Ort der Leistungserbringung“.
Weniger Krankenhausaufenthalte, weniger Medikamente, weniger Zuschüsse vom Sozialamt
Eine Studie der AOK unter wissenschaftlicher Begleitung der Universität Potsdam und der Medizinischen Hochschule Brandenburg könnte das nun ändern. Der Meinungsumschwung bei den Kostenträgern, welcher der Studie zugrunde liegt, hat vielleicht mit Dierbachs Reden über Menschlichkeit zu tun. Vielleicht auch damit, dass die Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie dem Mülheimer Konzept bescheinigte, es führe schon innerhalb weniger Monate zu einer deutlichen Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten und der Alltagstauglichkeit bei Menschen mit Schlaganfall, Parkinson, Übermedikamentation, Sturz oder einem Verwirrtheitszustand nach einer Operation.
Er fußt aber in jedem Fall auf Rechnungen, die erstaunliche Ergebnisse zutage förderten. Denn: Wer Alte nicht in die Betten pflegt, sondern aus ihnen hinaus, der spart möglicherweise Geld. Zumindest auf lange Sicht.
Die AOK Rheinland/Hamburg habe als Krankenkasse den gesetzlichen Auftrag, „sich um die Verbesserung der Pflege zu kümmern“, sagt Vorstand Matthias Mohrmann. Aber natürlich sei man auch zu Bezahlbarkeit gezwungen. Kummer bereitet den Kassen eine aktuelle Studie der Universität Bremen, wonach die Zahl der Krankenhausfälle von Pflegebedürftigen deutlich gestiegen ist – von 2,71 Millionen im Jahr 2017 auf 3,45 Millionen im Jahr 2022.
Gleichzeitig hat die Controlling-Abteilung der AOK die medizinische Versorgung der Bewohner in den Häusern der Evangelischen Altenhilfe Mülheim mit denen von gut 1000 anderen Pflegeheimen im Bezirk Nordrhein verglichen. Dabei kam heraus: Die beiden Heime verursachen 40 Prozent weniger Krankenhausaufenthalte, haben wesentlich geringere Verordnungen bei Medikamenten, und wenn Menschen aus dem Heim wieder nach Hause ziehen können, spart auch das Sozialamt hohe Pflegeheimzuschüsse. Mittlerweile, so sagt Dierbach, habe er die Sozialämter davon überzeugt, die Wohnungen der Pflegeheimbewohner erstmal weiterzubezahlen, „wenn wir signalisieren, dass der Senior vielleicht in ein paar Wochen wieder nach Hause ziehen kann“. Das sei jedenfalls günstiger als eine dauerhafte Unterbringung im Heim.
Aber auch wer im Heim bleibt, verbraucht nach Dierbachs Überzeugung weniger Geld, wenn man ihn zum Leben motiviert. „Wenn wir es schaffen, mit den Menschen herauszufinden, warum es sich nochmal lohnen könnte, dann steigt auch die Selbständigkeit, dann klappt es auch mit der Nahrungsaufnahme, dann kommt es auch seltener zu Stürzen.“
Forscher prognostizieren sechs Millionen Pflegebedürftige im Jahr 2030
Fortschritte steigern dabei nicht nur die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner, sie senken auch den Pflegeaufwand: Selbst Haare kämmen, nachts alleine aufstehen, die Suppe löffeln, die Zähne putzen. Angesichts des Fachkräftemangels hilft jeder kleine Zugewinn an Selbständigkeit dem überlasteten Personal weiter. Denn das arbeitet am Limit.
1,6 Millionen Pflegekräfte in Deutschland kümmern sich ambulant und stationär um etwa 4,6 Millionen Pflegebedürftige. Rund 800.000 Menschen, also rund 17 Prozent davon, wohnen dauerhaft in etwa 15.000 Pflegeheimen. Und durch den demografischen Wandel wird sich die Lage verschärfen. Einer Prognose der Universität Bremen im Auftrag der Barmer zufolge werden im Jahr 2030 rund sechs Millionen Menschen in Deutschland auf Pflege angewiesen sein. Das Gesamtausgabenvolumen der gesetzlichen Pflegekassen betrug nach Auskunft des Gesundheitsministeriums bundesweit im vergangenen Jahr 60 Milliarden Euro.
Das Geld ist heute schon knapp. Gespart wird oft am teuersten Posten: Dem Personal. Ganze Wohnbereiche sind unterbesetzt. Ein Teufelskreis. Mit dem Mantra „Satt und sauber“ lockt man Dierbach zufolge keine neuen Arbeitskräfte an, im Gegenteil führe man das bestehende Personal in Krankenstand und Burnout. Und verschlechtere die Personalsituation dadurch noch.
Dierbachs Gedanke geht in die andere Richtung. Er will Menschen davon überzeugen, dass der Pflegejob „der tollste Job der Welt“ ist. Der Paradigmenwechsel in der Pflege, der Fortschritt der Bewohner, der soll auch den Mitarbeitenden zur Motivation gereichen. Am Ende des Tages haben Pflegekräfte in Mülheim nicht nur dazu beigetragen, dass dutzende Windeln gewechselt wurden, sondern dass jemand wie Klaus-Dieter Grün wieder leben will, Pläne macht, voranschreitet. Ihr eigentlicher Lohn, sagt Dierbach zu neuen Mitarbeitenden häufig, das sei nicht ihr Tarifgehalt, „sondern wenn Sie in Herrn Grüns leuchtende Augen blicken, der stolz ist, weil er jetzt wieder selbst Treppensteigen kann“.
Grün steht zwischen den Holmen in der „Muckibude“, wie Dierbach den Mülheimer Kellerraum mit den Fitnessgeräten nennt. Heimtrainer, Matten, Sprossenwand, Gewichte an Zugseilen, eine Wand ist komplett mit einem Spiegel beklebt. Wenn Klaus-Dieter Grün sich mit einer Hand an der Stange festhält, kann er mit zwei Schritten den kleinen Hügel am Boden überwinden, der aus einem Mattenkeil besteht. Grün schreitet sicher. Am Ende des Barrenweges dreht er um, guckt sich selbst kurz im Spiegel an, wie er da groß und aufrecht steht, und läuft zurück.
„Das klappt doch gut“, lobt Dierbach. „Geht es auch ohne Festhalten?“ Grün löst mutig die Hand vom Holm und überwindet das Hindernis. Er schwankt ein wenig, kommt aber unfallfrei auf der anderen Seite an. Grün strahlt. Vor vier Monaten noch war er an den Rollstuhl gefesselt, Pflegegrad vier. Derzeit trainiert er sogar das Treppensteigen. Pflegegrad zwei. „Ich darf das nicht ohne Begleitung, weil mein Gehirn manchmal aussetzt. Aber: Ich könnte das!“ Grün lächelt wie ein Schuljunge, dem die Mutter verboten hat, allein mit dem scharfen Messer zu schneiden. Der aber selbstbewusst genug ist, darüber nachzudenken, es dennoch einmal auszuprobieren.
Es sind Kleinigkeiten, die einen selbstbestimmten Senioren ausmachen
Wer das Alten- und Pflegeheim der Wöllner-Stiftung in Rösrath besucht, der hat gleich nach dem Hereinkommen eher das Gefühl, in einer Cafeteria gelandet zu sein. Ein heller, großer Raum mit Vierertischen und roten Stühlen auf Holzfußböden. Die Wände zieren farbenfrohe Kunstdrucke. An der Längsseite zieht sich die Essensausgabe entlang. Auf der Empfangstheke steht ein Glas mit Gummibärchen. Geschäftsführer Michael Heine wippt hier gut gelaunt durch die Tischreihen, grüßt und verteilt Komplimente an Bewohnerinnen und Bewohner.
Dass die Räumlichkeiten hier so nagelneu glänzen, schuldet sich paradoxerweise dem Unglück der Flut, die im Sommer 2021 über die Gegend und auch Rösrath hereinbrach. Danach wurde umfassend renoviert. Nun will Heine auch das Pflegekonzept einer Frischekur unterziehen. Dazu kam die Innovationsfondsstudie der AOK gerade Recht. „Wir sind begeistert“, sagt Heine. Zwar versuche man schon seit geraumer Zeit Reha-Aspekte in die Pflege zu integrieren, die Möglichkeiten seien bislang aber stark begrenzt gewesen. Des Geldes wegen.
Jetzt gibt es pro Bewohner, der für die Studie gewonnen werden konnte, eine festgelegte Pauschale. Die ersten zwölf Probanden haben schon im Oktober gestartet, zwei weitere Gruppen folgen im kommenden Jahr, dann wird evaluiert. Ein Auszug aus dem Pflegeheim sei ein hehres Ziel, sagt Heine. „Aber wenn wir den Menschen mit rehabilitativer Pflege einen würdigeren und aktiveren Lebensabend im Heim ermöglichen können, dann haben wir schon viel erreicht.“ Wieder selbständig zum Essen gehen, an Gruppenangeboten teilnehmen, sich die Hose alleine hochziehen. Manchmal sind es Kleinigkeiten, die aus einem hilflosen Bettlägerigen einen selbstbestimmten Senior machen.
Ein Team aus Neurologen, Pflegefachkräften, Ergo- und Physiotherapeutinnen, Hausärzten und Apothekern arbeitet hier nun finanziert durch die Studie seit Oktober zusammen, spricht darüber, was der einzelne Bewohner zum Leben braucht. Aber auch darüber, was ihn motivieren könnte, sein Leben zu verbessern.
Gerade von der interdisziplinären Herangehensweise verspricht sich Anja Ziegenbein, Studien-Assistentin der Uni Potsdam, einen Entwicklungsschub. Gemeinsam sei man klüger. Viele Pflegeheimbewohner schluckten beispielsweise mit fortschreitendem Alter immer mehr Medikamente. Unterschiedliche Ärzte verschrieben unterschiedliche Medikamente, zum Teil ohne von früheren Verordnungen zu wissen. Oft komme es so zu Wechselwirkungen, die den Zustand eher verschlechterten. „Ein Apotheker in der Runde, der die Medikamentation nochmal überprüft, kann da sehr hilfreich sein.“ Eine Reduzierung der Arzneimittel oder auch ergo- oder physiotherapeutische Maßnahmen können zu mehr Wachheit führen, zu mehr Appetit, zu mehr Lebensmut. Für derlei multiprofessionelle Fallbesprechungen fehle im Heimalltag sonst die Zeit.
Es ist nicht leicht, geeignete Probanden zu finden
Geeignete Probanden zu finden, sei gar nicht so leicht gewesen. Die Studienteilnehmer müssten zahlreiche Voraussetzungen erfüllen. Fortgeschrittene Demenz ist laut Anke Desch, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Medizinischen Hochschule Brandenburg, ebenso ein Ausschlusskriterium wie eine schon zu lange währende Heimunterbringung. „Die Kommunikationsfähigkeit muss noch gegeben, die Menschen müssen grundsätzlich Reha-fähig sein“, sagt Desch, die die Einführung der Studie auch in Rösrath begleitet.
Die Motivation der geeigneten Bewohnerinnen und Bewohner, an der Studie teilzunehmen, sei unterschiedlich. „Eine ehemalige Krankenschwester interessiert sich gesellschaftlich für die Studie und ist glücklich, dass sie da noch zur Wissenschaft beitragen kann“, erzählt Ziegenbein. Andere habe nach der Ankündigung der Ehrgeiz gepackt. „Wir haben Bewohner, die sagen: Ich bin noch nicht komplett ausgelastet. Ich kann noch ein Schippchen drauflegen. Sie wollen sich selbst verbessern“, sagt Heine. Im zweiten Stock stehe schon jetzt ein Ergometer, da werde fleißig trainiert. „Bei dem ein oder anderen habe ich den Eindruck, der will nochmal zur Tour de France“, sagt er und lacht.
Klaus-Dieter Grün ist ebenfalls motiviert. Er will weiter jeden Morgen aufstehen. Sich „entfalten“, wie er sagt, seine eigenen Entscheidungen treffen, Reibekuchen essen, die mag er besonders. Sich mit seinen Mitbewohnern darüber ärgern, wenn mal wieder der Friseur nicht kommt. Grün lacht und deutet auf sein haarloses Haupt. Treppensteigen. Runter zur Ruhr und wieder zurück. Im Seniorenbeirat Wünsche der Bewohner durchboxen („Habe ich schon gesagt, dass Frau Winkler sich eine farbige Wand wünscht, Herr Dierbach? Lässt sich da was machen?“).
Auf Grüns Tisch liegt Albert Einsteins Relativitätstheorie. Die hat er noch nicht ganz durch. Vielleicht übersetzt er auch nochmal einen französischen Roman ins Deutsche. Einen dicken, eigenhändig getippten Packen Jules Verne hat er schon im geschnitzten Buffet liegen. Neben den ganzen Wörterbüchern. Und sonst? Grün lächelt und sagt: „Ich lass’ mich überraschen. Liegen kann ich jedenfalls noch lange genug.“