Wer sich radikalisiert hat und dann aussteigt, muss sich wieder neu in unsere Gesellschaft integrieren. Ein Vor-Ort-Besuch bei einem Verein.
Bonner VereinSo betreut die Beratungsstelle „Grüner Vogel“ IS-Rückkehrerinnen und Ex-Salafisten
Fast versteckt zwischen den Geschäften und der Gastronomie der Bonner Innenstadt spricht Franziska Frosch in den Räumen des Vereins „Grüner Vogel“ mit IS-Rückkehrerinnen, Salafisten und ihren Angehörigen. Nicht immer setzt Frosch sich dafür mit ihnen in der Beratungsstelle zusammen. Manchmal fährt sie einige Stunden zu einem Treffen, zum Beispiel mit einer jungen Mutter, deren Kinder auf IS-Gebiet geboren wurden. Manchmal wünscht ein Klient Begleitung, wenn die Sicherheitsbehörden Kontakt angekündigt haben. Manchmal sucht eine Mutter, die sich um ihre radikalisierte Tochter sorgt, kurzfristig Rat und ruft einfach an.
Für die 31-Jährige ist dieser Arbeitsalltag „unglaublich sinnstiftend“, sagt sie. „Diese Menschen bei der Deradikalisierung zu unterstützen und wieder in die Gesellschaft einzugliedern, dient auch dem Schutz der Öffentlichkeit.“
Franziska Frosch, blondes, schulterlanges Haar, lehnt sich in ihren Bürostuhl im dritten Stock. In ihrem Holzregal stehen Bücher mit Titeln wie „Islam und Psychologie“ und „Ich war ein Salafist“, daneben hängt ein Plakat mit dem Logo des Trägers „Grüner Vogel“. Das Tier ist ein Friedenssymbol im Islam, er gilt er als Bote des Glücks. Islamistische Terroristen missbrauchten das Zeichen, nutzten es, um Gewalt und einen „heiligen Krieg“ zu legitimieren. Bei der Ausstiegsorganisation soll der Vogel wieder als Symbol für Hoffnung dienen.
Aus Sicherheitsgründen steht der Verein nicht auf dem Klingelschild in dem Reihenhaus in der Bonner Innenstadt. Hier betreuen zwei Berater Fälle aus der Region: Franziska Frosch, studierte Islamwissenschaftlerin, Atheistin, seit Juni fest beim Grünen Vogel angestellt. Und Kaan Orhon, ebenfalls Islamwissenschaftler, gläubiger Moslem, der seit zehn Jahren als Fallberater arbeitet.
Die meisten Klienten sind IS-Rückkehrer
Der „Grüne Vogel“ arbeitet mit einem breiten Spektrum an Klienten: Die Berater sprechen mit Eltern, die eine Radikalisierung ihres Kindes befürchten. Sie beraten Familien, in denen Angehörige Inhalte von bekannten Islamisten konsumieren. Und sie helfen Menschen bei der Reintegration in die Gesellschaft, die Mitglied einer Terrororganisation waren.
Franziska Frosch und ihre Kollegen arbeiten vor allem im Hochsicherheitsbereich. Circa 80 Prozent ihrer Klienten sind IS-Rückkehrer. Besser gesagt: Meist sind sie Rückkehrerinnen – ein Großteil der ausgereisten Männer sitzt noch in Gefängnissen auf ehemaligem IS-Territorium.
Vielen Islamisten, die den Ausstieg aus der Szene schaffen wollen, fällt der Anruf bei einer Organisation wie dem Grünen Vogel leichter als beim Aussteigerprogramm des Verfassungsschutzes. Trotzdem gilt auch beim Grünen Vogel: Die Berater haben eine Meldepflicht und kein Recht auf Zeugnisverweigerung. Wenn jemand von Straftaten in Syrien berichtet, müssen sie vor Gericht aussagen.
„Erst, wenn die Lebensgrundlage gesichert ist, können wir ideologisch mit den Klienten arbeiten“
Gerade bei IS-Rückkehrerinnen und Rückkehrern stehen pragmatische Hilfen vorerst im Vordergrund. Ohne eine stabile Lebensgrundlage, ohne Geld und ohne Zuhause, schaffen die wenigsten den Ausstieg. Also geht Frosch mit zum Amt, wenn Sachbearbeiter keine Geburtsurkunde für ein im IS geborenes Kind ausstellen wollen, sie hilft Rückkehrerinnen, die gegen eine drohende Obdachlosigkeit kämpfen, auch, wenn sie und ihre Kollegen dafür manchmal als Terroristenversteher abgestempelt werden. Geldsorgen, psychische Probleme, Lebenskrisen – all dies sind Faktoren für eine Radikalisierung, sagt Frosch. Durch die Hilfen baut sie ein zudem Vertrauensverhältnis zu den Beratungsnehmern auf. „Erst, wenn die Lebensgrundlage gesichert ist, können wir ideologisch mit den Klienten arbeiten.“
Im Islamismus lebten die Rückkehrerinnen unter klaren Vorgaben, erfüllten streng definierte Geschlechterrollen. Damit verbunden war die Überzeugung: Rücke ich auch nur minimal von dieser Rolle ab, lebe ich in Sünde. Zur Deradikalisierung gehört, diese Überzeugung zu durchbrechen. „Diese moralische Auf- und Abwertung sich wieder abzugewöhnen, ist sehr schwer“, sagt Frosch. Vieles sei für die Frauen mit Schuldgefühlen verbunden: Ihre Stimme in der Öffentlichkeit zu erheben. Eine Unterhaltung mit einem Mann, der nicht zur Familie gehört. Ein Essen mit Kollegen. „Es ist ein wenig so, als würde ein Veganer versuchen, wieder Fleisch zu essen“, sagt Frosch. Bei vielen Frauen lösen diese Schritte Gewissensbisse aus. „Diese Strukturen, diese klare Definition von gut und schlecht, kann unglaublich identitätsstiftend sein. Eine neue Identität aufzubauen, ist schwer.“
Eine Beratung gilt erst als erfolgreich beendet, wenn die Menschen sich von ideologischen Merkmalen, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet sind, distanziert haben und sich ein neues Leben aufgebaut haben. „Es muss einen klaren neuen Zustand geben, indem das alte Ich mit der ideologischen Überzeugung als Vergangenheit reflektiert wird.“ Die Kernpunkte, an denen Berater eine Deradikalisierung festmachen, sind dieselben wie bei einer Radikalisierung.
Faktoren für Radikalisierung
Menschen, die Hilfe beim Ausstieg aus der Szene suchen oder deren Angehörige sich beim „Grünen Vogel“ melden, kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Trotzdem benennt die Wissenschaft Faktoren, bestimmte Erlebnisse, die eine Radikalisierung begünstigen. Egal, ob nach rechts, links oder ins islamistische Spektrum.
Die erste, biografische Ebene bezeichnet man klassisch als „schwierige Kindheit“: Scheidung der Eltern, Geldprobleme, Drogenkonflikte, der Tod von Angehörigen. Die meisten Schicksalsschläge enden nicht in einer Radikalisierung, doch sie können eine solche begünstigen. Als zweiten Faktor nennt Frosch den sozialen Zusammenhalt. „Jemand, der sich in einem sozialen Vakuum befindet, wird sich leichter einer extremistischen Gruppe anschließen.“
Die dritte Ebene besteht aus gesamtgesellschaftlichen Erlebnissen. Islamismus werde oft mit Migration in Verbindung gesetzt, sagt Frosch. Dabei sei in Familien mit Migrationshintergrund eine enge kulturelle Bindung und Religion häufig ein Schutzfaktor. „Ein Jugendlicher, dessen Eltern die Migrationsgeschichte nicht mehr thematisieren, der aber in Deutschland Ausgrenzung und Diskriminierung erlebt, ist deutlich gefährdeter“, sagt sie. „Dieser Jugendliche sucht Anschluss. Radikalisierung hat viel mit unerfüllten Bedürfnissen zu tun.“ Gleichzeitig sei der Schluss, Diskriminierung müsse zwangsläufig mit Radikalisierung verbunden sein, falsch. „Ansonsten müssten wir einen Mob an Frauen mit Kopftuch haben.“
Frosch spricht von einer Co-Radikalisierung zwischen Islamismus und Rechtsradikalismus. Wenn junge Menschen Diskriminierungserfahren machen, dann greifen Salafisten diese häufig auf. „Sie zitieren dann Björn Höcke und sagen: Der sagt, ihr müsst alle weg – wehrt euch!“ Gerade für Jugendliche könne das sinnstiftend sein. „So können Islamisten sie anschließend mit islamistischen Inhalten ansprechen, für die sie sonst gar nicht empfänglich gewesen wären.“
„Bei vielen Beratungsnehmern ist der Bruch in der Familie bereits sehr groß“
Angehörige wie Eltern lassen sich telefonisch, in den Gesprächsräumen des Grünen Vogel oder bei den Familien zu Hause beraten. Meistens geht es um Einschätzungen, sagt Frosch. „Bei den Eltern ist die Sorge oft groß. Gerade, wenn sie selbst keine Berührungspunkte zur Religion haben, kann es ein Schock sein, wenn das eigene Kind zum Islam konvertiert.“
Derzeit, sagt Frosch, beobachten Beratungsstellen in ganz Deutschland ein ähnliches Phänomen: „Es melden sich immer mehr Eltern von Teenagern. Die Kinder, um die es geht, werden immer weiblicher, immer jünger und radikalisieren sich immer häufiger alleine übers Internet.“ Woher dieser Trend kommt, ist noch unklar. Immer häufiger sind es Mädchen, die vorher keinen Kontakt zum Islam hatten. „Wir beraten immer häufiger Eltern, die den Kontakt zu ihrer Tochter nahezu verloren haben, weil sie im Internet gewaltbereite Propaganda konsumiert.“
Frosch vermutet den Ursprung auf Social-Media-Plattformen wie TikTok. Wenn ein Teenager bei TikTok nach „Islam“ sucht, sagt sie, sind die ersten Ergebnisse häufig Videos von Islamisten. So haben Jugendliche kaum eine Chance, sich dort mit anderen Quellen über die Religion zu informieren. „Noch schlimmer ist es, wenn die Videos gar nicht auf den ersten Blick als islamistisch erkennbar sind, weil beispielsweise politische Inhalte im Vordergrund stehen“, sagt sie. „Selbst Erwachsene haben selten genug Medienkompetenz, das zu unterscheiden. Teenager erst recht nicht.“
Die Isolation des Kindes von den Eltern, die Entfremdung in der Familie, gehört zur Strategie von Islamisten. „Bei vielen Familien ist der Bruch bereits groß“, sagt Frosch. „Die Eltern spionieren dem Kind aus Sorge hinterher, kontrollieren das Handy, das Kind distanziert sich weiter und es kommt zum Streit.“ Frosch rät den Eltern, das Gespräch zu suchen, nicht konfrontativ, sondern aufmerksam gegenüber den Interessen des Kindes.
So entstehen für Frosch die schönsten Situationen: Wenn Eltern wieder eine enge Bindung zu dem Kind aufbauen. Wenn ein Klient sich so weit deradikalisierte, dass die Polizei ihn von der Gefährderliste streicht. Wenn das Kind sich aus der Radikalisierung löst und seine Bedürfnisse durch beispielsweise einen Sportverein erfüllt werden. Selbst wenn es Jahre dauert, sagt Frosch, ist es das wert. „Dafür arbeiten wir.“