Jannis begann im Alter von 14 Jahren, islamistische Inhalte zu konsumieren. Die Eltern waren schockiert – und suchten sich Hilfe.
Islamismus„Vielleicht hat Jannis einen spirituellen Input gesucht. Eine einfache Erklärung, wie die Welt entstanden ist“
Die Erklärung, wieso sich sein Kind verändert hat, findet Thomas Richter um vier Uhr nachts. Oder besser gesagt: Er hört sie. Der Vater geht über den Flur in Richtung Toilette, als aus dem Zimmer seines Sohnes Wortfetzen dringen. Thomas Richter bleibt stehen, öffnet leise die Zimmertür, blickt auf den 14 Jahre alten Jannis, versunken in Schlaf. Aus Jannis‘ Handy dröhnt eine Männerstimme auf Arabisch, die langsam, fast schon monoton die Suren des Korans vorliest.
Ohne Jannis zu wecken, schaut Richter auf das Handy, sieht, dass die Streaming-Plattform Spotify läuft. Die von Jannis gestreamten Suren und Podcasts stammen fast alle von demselben Produzenten: der DMG Braunschweig. Die Gruppe um den salafistischen Prediger Pierre Vogel wird einige Monate später, im Sommer 2024, vom niedersächsischen Innenministerium verboten.
Ein typischer Fall
Die Richters erfüllen nicht das Vorurteil einer Familie, in der das Kind zwischenzeitlich salafistische Inhalte konsumierte, und sind doch ein typischer Fall. Thomas und Anja Richter leben mit ihren zwei Söhnen in einem Einfamilienhaus in einer kleinen Ortschaft im Bergischen, gutbürgerliche Gegend, wo weder Geld ein Sorgenthema ist noch Kinder in teuren Markenklamotten die Straße entlanglaufen. Ganz normaler Standard eben, sagt Thomas Richter, der wie alle hier genannten Familienmitglieder eigentlich anders heißt.
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Und doch fallen die Richters auf. Denn Jannis Oma, die Mutter von Anja Richter, stammt aus Ostafrika. Vielleicht, sagt Thomas Richter, spielte das eine Rolle, als „das Problem“ aufkam. Vielleicht hat Jannis nach einem Platz in der Gesellschaft gesucht, wo er hineinpasst und nicht wegen seiner Hautfarbe hinterfragt wird. Vielleicht war es auch die Art, wie Thomas und Anja ihren Kindern die Fragen zur Welt, zum Leben und zum Tod beantworteten: naturwissenschaftlich, atheistisch, ohne Wunder, ohne einen Gott. „Vielleicht hat Jannis eine Art spirituellen Input gesucht, den er zu Hause nicht bekommen hat. Eine einfache Erklärung, wie die Welt entstanden ist“, sagt Richter. Und vielleicht waren es die TikTok Algorithmen, die Jannis in eine Spirale zogen, in der „das Problem“ so richtig Fahrt aufnahm.
Jannis sucht neue Freunde, verlässt seinen Fußballverein
„Es ging letztes Jahr im Herbst los“, sagt Thomas Richter. Jannis, gerade 14 Jahre alt, langweilt sich mit seinen alten Freunden aus der Grundschule, Jugendliche so gutbürgerlich wie das Einfamilienhaus. Beim Fußball zerstreitet Jannis sich mit seinem Trainer, so sehr, dass er den Verein verlässt. Er schließt neue Freundschaften, verliebt sich zum ersten Mal, in eine Freundin aus einem streng muslimischen Elternhaus.
Kurz nach Weihnachten wundern sich die Eltern so richtig über ihren Sohn. Jannis schimpft auf Schwule, Lesben und LGBTQ generell. Wie „bescheuert“ das sei, wie ein Mensch nur so sein könne. „Du bist doch unser Sohn, du bist doch bei uns im Haus aufgewachsen“, entgegnen die Eltern. „Wie kommst du jetzt auf so eine doofe Rede?“
Ende Februar stellen Thomas und Anja Richter Jannis zur Rede. Thomas Richter hat mittlerweile die Spotify-Playlist mit Pierre Vogel auf Jannis‘ Handy gefunden, Schweinefleisch isst er schon lange nicht mehr. Jannis, dem als Kind selbst für Lego die Geduld fehlte, steht nun jeden Morgen vor Sonnenaufgang auf, um zu beten. Er glaube an den Islam, sagt Jannis. Dann, erzählt der Vater, hat er „alles nachgeplappert“, was er im Internet, von der DMG und weiteren salafistischen Gruppen über die Religion gesehen und gehört hat.
„Ich weiß jetzt: Sowas kann in jeder Familie passieren“
Einige Jahre zuvor passierte es in der Familie von Thomas Richters Bekanntem: Der Sohn konvertierte, beteiligte sich an Koranverteilungen in der Innenstadt, verlangte von Mutter und Schwester, ein Kopftuch zu tragen, radikalisierte sich. Es dauerte nicht lange, bis die Sicherheitsbehörden an der Tür des Bekannten klingelten. „Damals dachte ich: Ihr Armen. Gut, dass sowas bei uns in der Familie niemals geschehen kann.“ Ganz schön arrogant, findet er heute. „Ich weiß jetzt: Sowas kann in jeder Familie passieren.“
Diesen Bekannten ruft Thomas Richter nach dem Gespräch mit Jannis an. Ich glaube, wir bekommen ein ähnliches Problem zu Hause wie ihr, sagt er. Richter macht sich Sorgen, befürchtet, Jannis habe einen Weg der Radikalisierung eingeschlagen, den er unermüdlich weitergeht. Der Freund verweist ihn an die Beratungsstelle für islamistische Radikalisierung „Grüner Vogel“.
Zwei Stunden telefoniert Richter mit der Zentrale in Berlin, dann fahren Anja und Thomas Richter an einem Samstagmorgen in die Bonner Zweigstelle. Viele Kinder deradikalisieren sich ebenso schnell wie sie sich radikalisieren, sagt ihnen Kaan Orhon, Islamwissenschaftler und Berater in der Bonner Zweigstelle. Jannis sei noch in einem sehr frühen Stadium der Radikalisierung. Gleichwohl sei ein Einschreiten dringend notwendig. „Wir wollten wissen: Wie kommen wir aus der Nummer wieder raus?“, sagt Richter. „Wie können wir unser Kind so beeinflussen, dass es sich nicht weiter radikalisiert?“
Wenn Kinder und Jugendliche sich auf Plattformen wie TikTok über den Islam informieren, Videoclips gucken, Podcasts hören, dann stammt ein Großteil dieser Inhalte von Gruppen wie der DMG. „Als hätten die Radikalen das Internet gekapert“, sagt Thomas Richter. Diese Erkenntnis sei zwar besorgniserregend, gleichzeitig habe sie ihn beruhigt. Es bedeutet: Jannis hat die islamistischen Inhalte nicht aktiv gesucht – sie fanden ihn.
Eltern konfrontieren Jannis in Gesprächen
In den Beratungsgesprächen bereiten sich Anja und Thomas Richter auf Diskussionen mit Jannis vor. Sie lernen die Strategien von Islamisten bei der Rekrutierung von Jugendlichen, lassen sich beschreiben, welche Argumente Jannis nennen wird. Und sie lernen, wie man diese Argumente entkräftet. Der „Grüne Vogel“ leiht den Eltern Literatur aus, Bücher über den Islam, über Radikalisierung und Deradikalisierung und bereitet Konfrontationen am Telefon vor und nach.
Immer wieder suchen die Eltern das Gespräch mit Jannis. Sie diskutieren mit ihm über die Interpretation des Korans, über den Ursprung der Weltreligionen, hinterfragen die Logik der strikten salafistischen Regeln. Es funktioniert. „Ich glaube, Jannis war es wichtig zu merken, dass wir ihn ernst nehmen und uns mit dem Thema beschäftigen“, sagt Thomas Richter.
Nur in einer Sache lassen die Eltern keine weiteren Debatten zu: Die Inhalte von Salafisten wie Pierre Vogel und Abul Baraa haben sie Jannis in Absprache mit dem Grünen Vogel ausnahmslos verboten. Nach einem langen Gespräch akzeptierte er dieses Verbot.
Jannis, mittlerweile 15 Jahre alt, isst noch immer kein Schweinefleisch, er fastet im Ramadan. Doch „dieses radikale Gequatsche zu Hause“ hörte komplett auf. Mittlerweile, sagt Richter, interessiert sich der älteste Sohn mehr für Sport als für Religion. Er geht regelmäßig ins Fitnessstudio, achtet auf seine Ernährung, besucht einen Boxclub, sein Social-Media-Algorithmus besteht zum größten Teil aus Aufzeichnungen von Boxkämpfen. Der Sport ist sein neues Ventil, sagt sein Vater. Er schenkt Jannis’ unruhigem Geist Ruhe, wenn er wieder einen Tag still an Schultischen sitzen musste.
Bis heute weiß Jannis nicht, dass seine Eltern mit einer Beratungsstelle für Deradikalisierung Kontakt haben. Ebenso wenig, dass der „Grüne Vogel“ seinen Boxclub aussuchte, da auch Boxschulen ein Rekrutierungsort für Salafisten sein können. Nachdem Kaan Orhon angeboten hatte, selbst mit Jannis zu sprechen, erzählte Thomas Richter seinem Sohn ausweichend von einem Bekannten, selbst gläubiger Moslem, mit dem Jannis sich über die Religion unterhalten könne. Irgendwann vielleicht, sagte Jannis. Das Moschee-Bild auf dem Sperrbildschirm seines Handys hatte er da schon gegen einen Boxer getauscht.
Im frühen Herbst dieses Jahres sprechen Thomas und Jannis Richter bei einer langen Autofahrt wieder über Gott und die Welt, über das Universum und den Ursprung des Lebens, den Urknall und die Schöpfungsgeschichte. „Ich glaube schon noch an den Islam“, sagt Jannis. „Aber ich weiß, du hast ja was gegen Glauben.“ Richter widerspricht: „Ich habe etwas dagegen, wenn Leute den Glauben missbrauchen.“ Ob Jannis einmal eine Moschee besichtigen möchte, fragt er. Sie könnten zusammen hingehen, Jannis könnte dort beten, testen, ob er sich wohlfühlt. Der Jugendliche überlegt, dann lehnt er ab. „Wenn mir danach ist, kann ich ja auch zu Hause beten.“
Befürchten Sie eine Radikalisierung bei einem Familienmitglied, Freund, Bekannten oder Schüler? Hier finden Sie Hilfe.
Die „Beratungsstelle Leben“ des Berliner Vereins „Grüner Vogel“ berät zu Deradikalisierung und Reintegration im Kontext von Jihadismus und politischem Salafismus. Das Beratungsangebot richtet sich sowohl an Menschen aus dem sozialen Umfeld sich radikalisierender Personen, als auch an distanzierungswillige Menschen selbst. Die Beratungen sind vertraulich, kostenlos und mehrsprachig. Der „Grüne Vogel“ wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gefördert. Beratungshotline, Mo-Fr 10-16 Uhr: 0176 4525 9019Zweigstelle Bonn: 0228 9473 5252
Das Präventionsprogramm „Wegweiser“ soll im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen den Einstieg jugendlichen Menschen in den Islamismus verhindern. Es richtet sich an junge, zweifelnde Menschen selbst, bietet jedoch auch Einordnungen für Familienangehörige, Lehrkräfte, Freunde, Bekannte von Menschen, die sich möglicherweise islamistisch radikalisieren. „Wegweiser“ arbeitet an 24 Standorten in ganz Nordrhein-Westfalen. Die Beraterinnen und Berater in Köln sind unter der Nummer 0221/88810444 erreichbar. „Wegweiser“ bietet zudem anonyme Chats an unter wegweiser.nrw.de/chat
Das Beratungsnetzwerk „Grenzgänger“ ist die älteste Beratungsstelle im Bereich Islamismus und Salafismus in Nordrhein-Westfalen. Das Projekt „ProKids“ mit Sitz in Bochum ist eine Beratungsstelle, die sich schwerpunktmäßig um Familien kümmert, die aus islamistischen Kriegsgebieten nach Deutschland zurückkehrten. „ProKids“ konzentriert sich auf die Arbeit mit den Kindern dieser Familien. Mehr unter www.grenzgaenger.nrw