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Islamwissenschaftler„Die Idee, das Problem Islamismus lasse sich mit Abschiebungen lösen, ist völlig fehlgeleitet“

Lesezeit 7 Minuten
Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, sollen schneller aus Deutschland abgeschoben werden.

Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, sollen schneller aus Deutschland abgeschoben werden.

Kaan Orhon berät Menschen beim Ausstieg aus dem Islamismus. Er erklärt, wieso die Debatte nach Solingen ihr Ziel verfehle.

Herr Orhon, nach dem Anschlag in Solingen folgten Forderungen nach mehr und konsequenteren Abschiebungen. Wie zielführend sind solche Debatten in Bezug auf die islamistische Szene in Deutschland?

Die Idee, dass sich das Problem Islamismus mit Abschiebungen lösen lässt, ist völlig fehlgeleitet. Nach meiner Erfahrung wurden die meisten von ihnen hier geboren und sind hier aufgewachsen, sie haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Somit umfasst die Debatte einen Großteil der Szene nicht, und geflüchtete Täter wie der von Solingen radikalisieren sich häufig in kurzer Zeit, waren also vorher unauffällig.

Vor Solingen gab es einige gescheiterte Anschlagspläne in NRW – auf den Leverkusener Weihnachtsmarkt, den Kölner Dom, in Castrop-Rauxel, hinzu kamen die abgesagten Taylor-Swift-Konzerte in Wien. Nimmt die Anschlagsbereitschaft in der Szene zu oder täuscht das?

Das täuscht. Die Motivation des IS-Spektrums – und das ist das Relevanteste, wenn es um Anschläge geht – war immer gleich hoch. Verändert hat sich, dass man weniger große Anschläge versucht. Da war das Swift-Konzert schon ungewöhnlich. Man wartet nicht mehr, die Strukturen für einen großen Angriff aufzubauen, sondern schickt eine Person direkt los, wenn sie bereit ist, einen Anschlag zu begehen.

Wir haben mittlerweile Gott sei Dank eine recht hohe Durchdringung der Szenen durch Nachrichtendienste – allerdings vor allem durch ausländische, die Hinweise an die deutschen Behörden weitergeben. Die Planungen werden dadurch früher bekannt. Eine neue Anschlagswelle erwarte ich nicht. Das Personenpotenzial der salafistischen Szene stagniert. Laut den Zahlen des Verfassungsschutzes wächst die Szene seit drei Jahren nicht mehr, sondern sie wird sogar etwas kleiner.

Kaan Orhon leitet das Bonner Büro der Beratungsstelle „Grüner Vogel“ gegen Salafismus und Jihadismus.

Kaan Orhon leitet das Bonner Büro der Beratungsstelle „Grüner Vogel“ gegen Salafismus und Jihadismus.

Sie arbeiten für den Verein „Grüner Vogel“, der Islamisten beim Ausstieg aus der Szene hilft und deren Angehörige berät. Was sind die häufigsten Motive, wieso sich junge Menschen radikalisieren?

Sie suchen vor allem nach Bindungen. Wer Gewalterfahrungen gemacht hat, sich schwach und ohnmächtig fühlt, sucht häufiger Anschluss an eine Gruppe, die als bedrohlich wahrgenommen wird und verspricht sich dadurch Schutz. Einige, die in armen Verhältnissen aufwuchsen, suchen hier nach einer Gruppe, die materiellen Erfolg abwertet und sagt: Nur was du fürs Jenseits vorbereitest, ist von Bedeutung. Anderen fehlt eine Art Lebenssinn. Sie fühlen sich in der Szene als Teil von etwas Größerem, einer Mission mit starken Autoritätsfiguren.

„Im gewaltaffinen Spektrum ist Telegram das zentrale Medium“

Wie gehen Islamisten in Deutschland bei der Rekrutierung dieser jungen Menschen vor?

Es gibt diese Redensart: ‚Salafisten sind die besten Sozialarbeiter.‘ Sie suchen die Jugendlichen gezielt auf. Der frühere Salafist Sven Lau ging vor einigen Jahren in Clubs, um junge Muslime anzusprechen. Die Islamisten suchen Menschen mit den gerade angesprochenen unerfüllten Bedürfnissen aus. Sie bieten ihnen eine Gemeinschaft, einen Sinn, ein rigides Werte-Konzept und die Idee, Teil einer verfolgten Gruppe zu sein, die sich gegen eine feindliche Umwelt wehrt. Anschließend isolieren sie die Jugendlichen und lösen sie systematisch aus ihrem Elternhaus, den Hobbys, dem Beruf, den Freunden außerhalb der Szene heraus. So bleibt nur die radikale Gruppe als Bezugspunkt – damit können die Islamisten Druck ausüben.

Welche Rolle spielen soziale Medien bei der Radikalisierung?

Sie erleichtern den Einstieg in den Islamismus. Jugendliche geraten schneller an extreme Inhalte, die Prozesse beschleunigen sich, begünstigt durch Algorithmen. TikTok hat besonders problematische Algorithmen und spielt bei der Radikalisierung von Jugendlichen eine große Rolle, aber im gewaltaffinen Spektrum ist Telegram das zentrale Medium. Hier entfalten sich die Terroristen frei, dort posten sie auch Zustimmung zum Anschlag in Solingen.

Was muss gegen die Radikalisierung in den Sozialen Medien somit getan werden?

Bezogen auf die Sozialen Medien sehe ich die Verantwortung bei den Konzernen. Der Gründer von Telegram wurde kürzlich deshalb in Frankreich festgenommen. TikTok ist seit geraumer Zeit ein Problem – nicht nur, weil sich dort extremistische Akteure ausbreiten, sondern weil der Konzern von China kontrolliert wird. Es muss wesentlich mehr Druck auf diese Konzerne ausgeübt werden, um sie – auch mit finanziellen Strafen – dazu zu bewegen, mehr zu moderieren und extremistische Inhalte nicht nur zu löschen, sondern auch zu melden.

Wie kann es sein, dass einige Menschen aus islamistischen Ländern fliehen und sich erst in Deutschland radikalisieren?

Die Infrastruktur ist vorhanden. Als 2015 viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, organisierten salafistische Prediger wie Pierre Vogel über die sozialen Medien Missionskampagnen. Die Geflüchteten sind für die Islamisten eine dankbare Gruppe: Sie sind längst isoliert, bei ihnen müssen nicht viele Bindungen gekappt werden, gerade, wenn sie ohne Familie kamen.

Dazu kommen die gegenläufigen Radikalismen in Bezug auf Migration: Rechtsradikalismus und Islamismus wiegeln einander auf, indem sie die gesellschaftliche Mitte angreifen. Die Narrative, die die AfD bedient, werden von Salafisten aufgegriffen, um zu zeigen: Die deutsche Gesellschaft diskriminiert euch, sie ist hinter euch her. Umgekehrt greifen extreme Rechte wieder die Reaktionen der Islamisten auf, um weiter Stimmung gegen Migranten zu machen. Das schaukelt sich hoch.

Wie unterscheidet sich die Rekrutierung in den islamistischen Gruppen?

Die Dynamik ist stark auf die salafistische Szene zentriert. Das gilt auch für einige Gruppen wie Hizb ut Tahrir, die 2003 verboten wurde und heute unter Tarnbezeichnungen wie Generation Islam, Realität Islam und Muslim Interaktiv agiert. Dazu kommen Strömungen wie die Muslimbruderschaft oder schiitische Gruppen, die sich am Iran und der libanesischen Hisbollah orientieren, wie das Islamische Zentrum in Hamburg, bekannt als Blaue Moschee. Hier geschieht die Radikalisierung in der Familie, ähnlich wie bei den türkisch-nationalistischen Grauen Wölfen, die Kinder und Jugendlichen wachsen in der Szene auf.

Diese Leute werden seltener von uns beraten, weil sich keine besorgten Familienangehörigen an uns wenden, die beklagen, ihr Kind habe sich verändert. Mitglieder dieser Gruppen müssen selbst Zweifel entwickeln, um sich an ein Aussteigerprogramm zu wenden. Anschlagspläne in Deutschland spielen in diesen Gruppen in der Regel keine Rolle, Gewaltpotenziale gibt es eher im Zusammenhang mit Konflikten in Herkunftsländern der Bewegungen.

Neonazis und Salafisten versuchten vor einigen Jahren eine Kooperation

Gewaltbereite Salafisten wie der IS setzen also auf Anschläge, gewaltablehnende Salafisten und Gruppen wie Hizb ut Tahrir und Generation Islam auf eine stetige Radikalisierung von immer mehr Menschen?

Absolut. Prediger wie Pierre Vogel und Abul Baraa versuchen, immer mehr Menschen zu missionieren, um gesellschaftliche Veränderungen zu schaffen. Dabei geht es nicht um klassische politische Macht – Wahlen lehnen sie zum Beispiel ab. Die Hizb ut Tahrir fällt aber mit Demos auf, unter anderem im Kontext von Palästina, auf denen Anhänger mit Kalifatsschildern herumliefen.

Es geht ihr aber nicht um ein Kalifat in Deutschland, sondern sie versucht, von Deutschland aus Umstürze in muslimischen Ländern herbeizuführen. Deswegen versuchte sie vor 20 Jahren, eine Kooperation mit der NPD aufzuziehen – es gab sogar eine gemeinsame Konferenz in Berlin. Beide teilen die Feindbilder Amerika und Juden, die Idee war: Wenn das Kalifat kommt, werden alle muslimischen Migranten Deutschland verlassen, weil sie im Kalifat leben wollen – was natürlich eine irrsinnige Vorstellung ist.

Der Täter von Solingen soll laut Medienberichten eine IS-Fahne in seinem Zimmer aufgehängt haben. Der Wachdienst habe sie laut Zeugen nur entfernt. Werden solche Fälle zu selten den Sicherheitsbehörden gemeldet?

Ja. Der Einzeltäter, der sich allein vor seinem Computer radikalisiert und niemand kriegt etwas mit, ist extrem selten. In der Regel schildern Nachbarn, Freunde, ein Familienmitglied oder eine Lehrerin im Nachhinein Verhaltensänderungen bei dieser Person, die dann aber nicht gemeldet werden. Das ist bedauerlich.

Es hat mich in der Debatte über Solingen gestört, dass viel zu wenig über mehr Förderung für Präventionsprogramme und Projekte zur Deradikalisierung gesprochen wurde: Es müsste viel mehr geschultes Personal in die Schulen, Jugendzentren und Geflüchtetenunterkünfte gehen. Damit die Freunde und Lehrer, wenn sie das nächste Mal ein „Kalifat ist die Lösung“-Gekritzel auf dem Schultisch sehen, wissen, an wen sie sich wenden müssen. Ich wünsche mir sehr, dass wir diese Lehre aus dem Anschlag in Solingen ziehen.

Zur Person: Kaan Orhon ist Islamwissenschaftler, Mitglied im Bundesvorstand der Gesellschaft für Bedrohte Völker und leitet das Bonner Büro der Beratungsstelle „Grüner Vogel“. Der Verein hilft Islamisten beim Ausstieg aus der Szene und berät Angehörige von Personen, die sich radikalisieren.