Bei einer Demo in Essen wurden auch islamistische Banner gezeigt und nach einem Kalifat gerufen. Die wichtigsten Antworten zur Szene.
Pro-palästinensische DemonstrationenWie ist die islamistische Szene in NRW aufgestellt?
Nachdem bei einer pro-palästinensischen Demonstration in Essen mutmaßlich Islamisten unter der Teilnehmern waren, laufen bei der Polizei Ermittlungsverfahren. Die Bilder der Demonstration, bei der Flaggen wehten, die denen der Taliban und des IS ähnelten, lösten im Landtag parteiübergreifend Entsetzen aus. Wie blickt die Essener Polizei eine Woche später auf die Demonstration? Und wie ist die islamistische Szene in Nordrhein-Westfalen aufgestellt? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wurde die Essener Polizei über den wahren Charakter der Demonstration getäuscht?
Dieser Ansicht ist die Essener Polizei bisher nicht. Nach der Demo-Anmeldung habe die Polizei zwar befürchtet, das Thema Palästina könnte teilweise nicht im Mittelpunkt stehen, „sondern möglicherweise islamistische Botschaften“, so Pressesprecher Thomas Weise. In den allergrößten Teilen sei der angeküdigte Inhalt jedoch eingehalten worden. „Pro-Palästina war immer Thema: auf Plakaten und Fahnen und auch bei den Parolen, die skandiert wurden“, so Weise.
Wurden tatsächlich verbotene Flaggen geschwenkt?
Nach Einschätzung der Polizei Essen bewegten sich alle bis jetzt gesichteten Flaggen im „rechtlich gültigen Bereich“. Die Beamten hätten zusammen mit Islamwissenschaftlern zahlreiche Fahnen, Banner und Schilder gesichtet und übersetzt - keine von ihnen sei verboten. „Wir sind uns bewusst, dass man da sicherlich an die Grenzen der rechtlichen Vorgaben herangegangen ist, denn diese Fahnen ähnelten schon sehr deutlich denen, die der Islamische Staat und auch die Taliban verwenden“, sagt Weiser.
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Sind die Ermittlungen abgeschlossen?
Nein. Bei der Polizei laufen im Zusammenhang mit der Demonstration noch vier Ermittlungsverfahren. „Wir haben eine große Anzahl an Datenmengen, die wir aktuell noch auswerten“, sagt Weise. „Das wird sicherlich noch eine ganze Weile in Anspruch nehmen.“
In welchen NRW-Städten ist die islamistische Szene besonders aktiv?
Grundsätzlich gibt es in ganz Nordrhein-Westfalen verteilt Anlaufstellen von Islamisten. Einen Schwerpunkt bilden laut Verfassungsschutz die Ballungsräume, vor allem die Großstädte im Rheinland und Ruhrgebiet.
„In Bonn haben manche salafistische Gruppen den internationalen Charakter der Stadt mit vielen internationalen Organisationen und Botschaften ausgenutzt“, sagt Kaan Orhon. Der Extremismusforscher arbeitet für die „Beratungsstelle Leben“ des Vereins „Grüner Vogel“ in Bonn. Hier hilft man Islamisten beim Ausstieg aus der Szene. „Im Ruhrgebiet leben einige Studenten – gerade die versucht die islamistische Organisation Hizb ut-Tahrir gerne zu rekrutieren.“
Wie groß ist die Gefahr durch Islamismus in NRW?
Hierbei muss man laut Verfassungsschutz zwischen der Gefahr durch Jihadisten und legalistischem Islamismus unterscheiden. „Während Jihadisten Gewalt einsetzen, um politische Ziele zu erreichen, versuchen legalistische Islamisten, zivilgesellschaftlich Einfluss zu nehmen und über diesen Weg gesellschaftliche Teilbereiche – auf weite Sicht auch die Gesamtgesellschaft – nach ihren extremistischen Vorstellungen zu prägen“, schreibt ein Sprecher des Geheimdienstes in NRW auf Anfrage dieser Zeitung.
Neben dem Rechtsextremismus bilde auch der Islamismus eine „sehr hohe abstrakte Gefahr für terroristische Anschläge“, vor allem durch selbst radikalisierte, allein handelnde Täter. „Bei diesen ist nicht auszuschließen, dass die derzeitigen Ereignisse im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt eine Tatmotivation fördern können“, so der Sprecher.
In welchen Bereichen sind die islamistischen Gruppierungen aktiv?
Das ist sehr unterschiedlich. Einige bieten Seelsorge und Lebensberatung an und verbreiten darüber ihre Ideologie, andere tun dies über Bildungsangebote oder nutzen Spendensammlungen für ihre Zwecke. Im Jahr 2022 registrierte der Verfassungsschutz in NRW wieder eine Zunahme der Missionierungsarbeit auf den Straßen, der Street-Da’wa. Diese war eigentlich zurückgegangen, nachdem die Koranverteilaktion „LIES!“ 2016 verboten wurde. In Nordrhein-Westfalen wohnen zudem radikale Online-Prediger, die eine große digitale Followerschaft haben – dadurch wirkt ihre Propaganda auch über die Grenzen des Bundeslandes hinaus.
Wie rekrutieren die Islamisten in NRW neue Anhänger?
Die Rekrutierung geschehe vor allem über den persönlichen Kontakt, erklärt Orhon. „Deshalb konnten wir auch beispielsweise in Essen wunderbar beobachten, wie Islamisten, für die Palästina eigentlich kein Thema ist, versuchen, eine Verbindung zu emotional betroffenen Jugendlichen herzustellen.“
Wie vernetzt ist die Hamas in Nordrhein-Westfalen?
Der Verein „Die Barmherzigen Hände“ mit Sitz in Dortmund wies Bezüge zur Hamas aus. Er löste sich allerdings im August 2023 auf – einige Wochen vor dem Angriff der Hamas auf Israel. Ansatzpunkte für die Gründung einer Nachfolgeorganisation sieht der Verfassungsschutz nicht. „Im Übrigen agieren die hiesigen Anhänger der Hamas im Hinblick auf die aktuelle Eskalation des Nahostkonflikts sehr zurückhaltend, insbesondere nach der Verkündigung des Hamas-Betätigungsverbots am 2. November“, so der Sprecher des NRW-Verfassungsschutzes.
Wie groß ist die Bedrohung durch Islamismus in Nordrhein-Westfalen im Vergleich zu anderen Bundesländern?
Da Nordrhein-Westfalen das bevölkerungsreichste Bundesland ist, sind hier laut Verfassungsschutz auch zahlreiche islamistische Gruppierungen und Organisationen aktiv. „Unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahl und des Anteils hier lebender Muslime zeichnet sich NRW nicht durch eine überproportionale Betroffenheit durch den Islamismus aus.“
Wie entwickelt sich die Zahl der Islamisten in Nordrhein-Westfalen?
Im Jahr 2022 ging sie zurück. Während der Verfassungsschutz 2021 das Personenpotenzial im Islamismus noch auf 4.610 bezifferte, waren es 2022 nur noch 4.070. Etwas über tausend Menschen rechnet der Geheimdienst einzelnen, vom Verfassungsschutz beobachteten Gruppen und Organisationen zu. Die restlichen 2.800 Menschen fallen unter den Sammelbegriff extremistischer Salafismus. Von ihnen gelten 600 als gewaltbereit.
Wie kann man Islamismus in NRW am effektivsten bekämpfen?
„Die Aufklärung der Öffentlichkeit ist ein sehr wichtiger Punkt“, sagt Kaan Orhon. So könne man die Rekrutierung erschweren. Wer steht hinter welchen Kundgebungen, wer steckt hinter beliebten Kanälen in den sozialen Medien? „Einige Strukturen wurden von der Gesellschaft über zu viele Jahre hinweg ignoriert“, sagt Orhon. Hier kommen die Aussteigerangebote ins Spiel: „Wir können niemanden aktiv aus der islamistischen Szene ziehen – die Leute müssen von sich aus Zweifel entwickeln. Aber wenn sie es tun, dann brauchen wir gesellschaftliche Angebote, um diesen Leuten eine Tür raus aus der Szene aufzuzeigen.“