Der 21. Deutsche Bundestag hat seine Arbeit aufgenommen. Die erste Sitzung zeigt Gregor Gysi, dass Erfahrung nicht vor Nervosität schützt.
Neuer BundestagKlöckner fordert Anstand, Gysi vergeigt die Rede und die AfD ist mal zufrieden

Julia Klöckner (rechts, CDU) erhält Glückwünsche von Saskia Esken (SPD), während sich im Hintergrund Friedrich Merz (rechts, CDU) und Lars Klingbeil (SPD) unterhalten.
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Den großen Teil einer ersten Bundestagssitzung beansprucht das Alphabet: Die Namen aller 630 Abgeordneten werden verlesen – sie müssen zum ersten Mal ihre Stimmkarten abholen. Am Ende des Tages gibt es eine neue zweite Frau im Staat – und Olaf Scholz hat seine Entlassungsurkunde bekommen. Die wichtigsten Stationen des Tages:
Das erste laute Wort
Eigentlich sollte das der Alterspräsident haben, der die konstituierende Sitzung eröffnet. Gregor Gysi versucht es auch, aber seine Begrüßung ist nicht zu hören. „Mikro“, rufen mehrere Abgeordnete daher in voller Lautstärke.
Gysi drückt auf einen Knopf, eigentlich hatte er das ja schon geübt: Nach der Sondersitzung des alten Bundestags zum Finanzpaket nahm Gysi schonmal probehalber auf dem erhöhten Präsidentensitz Platz und ließ sich das Schaltpult erklären. Aber auch einer, der länger als alle anderen Anwesenden im Bundestag saß – nämlich 30 Jahre und neun Monate –, ist manchmal noch aufgeregt.
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Gregor Gysis nervöser Auftritt
Das mit der Aufregung bleibt. Gysi, der sonst geschliffene freie Reden hält, wirkt nervös, er liest sein Manuskript ab. Und er verzettelt sich. Kaum ein Thema, das er nicht erwähnt. Russlands Krieg gegen die Ukraine, der Nahost-Konflikt, US-Präsident Donald Trump – Dooonald, so spricht ihn Gysi aus.
Er spricht über die Schuld der Deutschen am Holocaust, über Corona-Pandemie, Klimawandel, Migrations-, Renten- und Bildungspolitik, Digitalisierung. Er beklagt westdeutsche Arroganz bei der Wiedervereinigung. Er schlägt neue überparteiliche Gremien vor – für Steuern, Rentenreform und, ausgerechnet, für Bürokratieabbau.
Irgendwann landet er bei der Mehrwertsteuer für Weihnachtsbäume. Bei den Abgeordneten hat die Konzentration da längst nachgelassen, ein leichtes Murmeln liegt über dem Saal. Gysis Werben um Ausgleich und Versöhnung verblasst. Man dürfe sich nicht gegenseitig als Kriegstreiber oder Putin-Versteher beschimpfen, hat er etwa gemahnt.
In der Union ist nicht allen nach Ausgleich mit Gysi, der während des Umbruchs Ende 1989 den letzten Vorsitz der Staatspartei SED übernahm: Der CDU-Abgeordnete Sepp Müller aus Sachsen-Anhalt klappt demonstrativ ein Buch auf mit dem Titel „Die Täter sind unter uns – Über das Schönreden der SED-Diktatur“. Der Applaus für die Rede ist dürftig.
Koalitionsverhandlungen im Saal
Union und SPD wollen zusammen regieren, im Plenarsaal halten sie sich weitgehend voneinander fern. Einzelne Kontaktaufnahmen lassen sich beobachten: Zu Verteidigungsminister Boris Pistorius etwa bewegen sich einige Unions-Abgeordnete, etwa der CSU-Sicherheitsexperte Florian Hahn.
Und dann, kurz vor Verkündung der Klöckner-Wahl, finden auch SPD-Chef Lars Klingbeil und Friedrich Merz mal zueinander – dort wo es jeder sehen kann, in der Mitte des Plenarsaals. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt will die beiden lieber nicht alleine lassen, er stellt sich dazu.
Julia Klöckner – die neue zweite Frau im Staat
Es ist kein berauschendes Ergebnis, aber es reicht: Mit 382 Stimmen wird die frühere Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) zur neuen Bundestagspräsidentin gewählt – und damit zur zweiten Frau im Staat nach dem Bundespräsidenten. Das sind mehr als die nötigen 316 Stimmen. Aber 204 Abgeordnete stimmen gegen sie, 31 enthalten sich, fünf Stimmen sind ungültig.
Gut 60 Prozent Zustimmung ist das, von ihrer Vorgängerin Bärbel Bas (SPD) waren 2021 knapp 80 Prozent überzeugt. Selbst in der Union hatte es Vorbehalte gegen Klöckner gegeben, die zuletzt vor allem als Polarisiererin aufgefallen war. Nun applaudieren alle – außer der AfD.
In ihrer Rede bedankt sich Klöckner für den „Vertrauensvorschuss“. Anders als Gysi legt sie den Fokus auf den Umgang im Parlament, auf den Schutz der Demokratie. Ihr Gradmesser sei: „Der Anstand.“ Und gleich in ihrer ersten Rede geht eine Ermahnung an die AfD. Aus deren Reihen kamen gerade noch Kartellrufe, als sie für ihre Geschäftsordnungsanträge keine Mehrheit fanden. „Mehrheiten, die in Demokratien gefunden worden sind, das sind keine Kartelle“, hält Klöckner fest. Wer kein „zivilisiertes Miteinander“ pflege, müsse das „erlernen“.
Sie mahnt auch die Bereitschaft an, Menschen mit anderer Meinung zu verstehen. Und sie sagt: „Nicht jede Meinung, die ich nicht teile, kommt Extremismus gleich.“ Zum Schluss ihrer Rede klatscht auch die AfD. Als Vizepräsidenten gewählt werden: Andrea Lindholz (CSU), Omid Nouripour (Grüne), Josephine Ortleb (Grüne), Bodo Ramelow (Linkspartei). Erneut keine Mehrheit findet der AfD-Kandidat, diesmal Gerold Otten.
Der alte und der vielleicht neue Kanzler
Friedrich Merz will neuer Kanzler werden, bei dieser Sitzung allerdings spielt er nur eine Nebenrolle. Zu Wort kommt er offiziell nur einmal: mit dem Vorschlag von Julia Klöckner als Bundespräsidentin. Der alte Kanzler sitzt nicht mehr auf der Regierungsbank, die bleibt nun erstmal leer.
Olaf Scholz hat in der ersten Reihe der SPD-Fraktion Platz genommen. Am Abend erhalten er und sein Kabinett ihre Entlassungsurkunden von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Im Amt bleiben sie erstmal, geschäftsführend, bis eine neue Regierung steht.