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Offenbar IS-Fahne im ZimmerSicherheitsbehörden entging Gefahrenpotential des Solingen-Attentäters

Lesezeit 4 Minuten
Solingen: Der Organisator der Jubiläums-Feier stellt im Gedenken an die Opfer eine Kerze auf.

Solingen: Der Organisator der Jubiläums-Feier stellt im Gedenken an die Opfer eine Kerze auf.

Ermittler untersuchen derzeit, wie sich der Attentäter radikalisierte. Die Bezirksregierung Detmold widerspricht einer Darstellung von Ministerin Paul zur gescheiterten Abschiebung.

Das Attentat von Solingen hätte möglicherweise verhindert werden können, wenn die Sicherheitsbehörden die Radikalisierung des Syrers rechtzeitig erkannt hätten. NRW-Innenminister Herbert Reul sagte in einer gemeinsamen Sondersitzung des Innen- und Integrationsausschusses des Düsseldorfer Landtags, über den 26-Jährigen hätten keine Informationen vorgelegen. Nach Medienberichten soll der Syrer jedoch in seinem Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft eine IS-Flagge aufgehängt haben, die vom Wachdienst entfernt wurde. „Davon weiß ich nichts“, sagte der CDU-Politiker. In den Akten gebe es darauf keine Hinweise. Aussagen von Mitbewohnern zur Radikalisierung des Attentäters seien aber noch Gegenstand der Ermittlungen, hieß es.

Wäre der mutmaßliche Täter als Islamist auf dem Radar der Sicherheitsbehörden gewesen, hätte das Land nach der gescheiterten Abschiebung das gemeinsame Zentrum zur Unterstützung der Rückkehr (ZUR) in Berlin einschalten können. Die Bund-Länder-Einrichtung koordiniert bundesweit Abschiebungen, denen eine besondere Priorität zugemessen wird – und kann in solchen Fällen auch kurzfristig Flugtickets organisieren. NRW-Integrationsministerin Josefine Paul erklärte, die Rückführung des 26-Jährigen sei „als Fall wie jeder andere“ behandelt worden. Daher sei es keine Option gewesen, das ZUR um Hilfe zu bitten, so die Grüne.

Auch die Moschee in Solingen, die der Attentäter regelmäßig aufgesucht haben soll, galt bislang als unauffällig. „Sie steht nicht unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, erklärte Reul. Angeblich soll das Bekennervideo des Attentäters im Umfeld der Moschee aufgenommen worden sein. Die Aufklärung der Vorgänge sei noch nicht abgeschlossen, sagte der NRW-Innenminister.

Bezirksregierung: Tatverdächtiger sei laut System am Tag der Abschiebung in der Unterkunft gewesen

Der Syrer sollte am 5. Juni 2023 vom Flughafen Düsseldorf aus nach Bulgarien gebracht werden. Als die Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) ihn um 2.30 Uhr in der Unterkunft in Paderborn abholen wollte, war er aber nicht in seinem Zimmer. Weitere Rückführungsversuche wurden fatalerweise nicht unternommen, weil die ZAB annahm, dass die Rückführung nicht mehr fristgerecht hätte durchgeführt werden können.

Der 26-Jährige war über Bulgarien in die EU eingereist. Laut der „Dublin-III-Verordnung“ hätte Deutschland ein halbes Jahr Zeit für die Rückführung gehabt. Allerdings können wegen der komplexen Regelungen, die Bulgarien aufgestellt hat, bundesweit nur zehn Flüchtlinge pro Woche nach Sofia ausgeflogen werden. Das System sei „höchst fehleranfällig“ sagte Paul. Unklar ist weiterhin, ob der Islamist sich seiner Abschiebung – möglicherweise nach einer Warnung – absichtlich entzogen hat. Integrationsministerin Paul hatte erklärt, der 26-Jährige sei nach seiner nächtlichen Abwesenheit am Mittag des 5. Juni 2023 wieder in der Einrichtung aufgetaucht.

Eine Darstellung, der die Bezirksregierung Detmold allerdings widerspricht. „Der jetzt Tatverdächtige hat sich während seiner gesamten Unterbringungszeit regelmäßig in der Unterkunft aufgehalten, das gilt auch für den Tag der gescheiterten Abschiebung. Er war während seines Aufenthaltes nicht länger abwesend“, sagte ein Sprecher dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Die Bewohner seien gehalten, sich beim Betreten und Verlassen der Flüchtlingsunterkunft in einem Buchungssystem an- und abzumelden. „Zum Abschiebezeitpunkt war der Tatverdächtige nicht ausgebucht“, sagte der Sprecher. Paul erklärte, nach damaliger Rechtslage hätte die ZAB keine rechtliche Handhabe gehabt, andere Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft zu durchsuchen.

SPD übt heftige Kritik an Ministerin Paul

Die Umstände der gescheiterten Abschiebung werden wohl bald ans Licht kommen. CDU und Grüne wollen die Hintergründe des Attentats von einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) aufarbeiten lassen. „Alle offenen Fragen müssen jetzt geklärt werden“, sagte Thorsten Schick, Chef der CDU-Fraktion. Versäumnisse müssten deutlich als solche benannt werden. Jochen Ott, Vorsitzender der SPD, erklärte, der Vorstoß komme einer „Selbstanzeige“ gleich.

Als Konsequenz aus den ersten Erkenntnissen will das Land den zentralen Ausländerbehörden nun den Zugriff auf Informationen zu An- und Abwesenheiten von Geflüchteten in ihren Unterkünften ermöglichen. Unterkunftsleiter sollen die Ausländerbehörden „umgehend“ informieren, wenn ein Asylbewerber nach gescheiterter Abholung wieder in der Unterkunft auftaucht. Im Fall des Attentäters werde eine Fallkonstellation sichtbar, „bei der viele ungünstige Zufälle möglicherweise zusammengekommen sein könnten“, sagte Paul.

Die SPD warf der Integrationsministerin vor, sie sei nach dem Attentat vier Tage lang „abgetaucht“. Sie kritisiere ein Systemversagen, das sie selbst zu verantworten habe. „Das ist nicht nur schwach, das ist feige“, sagte die SPD-Abgeordnete Lisa-Kristin Kapteinat. Paul sei „völlig planlos“, wie weil ihr „Desinteresse“ am Thema Abschiebungen sie „in völlige Ahnungslosigkeit geführt“ habe. Julia Höller, innenpolitische Sprecherin der Grünen, wies die Kritik zurück. Die Zuständigkeit für das Regelwerk bei den Abschiebungen liege nicht beim Land NRW, sondern bei Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die der SPD angehöre.