Das Attentat von Solingen hat NRWs Landesregierung in eine Krise gestürzt. Ministerin Josefine Paul steht massiv unter Druck. Was ist schiefgelaufen?
Anschlag von SolingenWie sich NRW-Flüchtlingsministerin Paul selbst in Bedrängnis brachte
Die Kritik kommt aus den eigenen Reihen, und sie ist überraschend deutlich. In einer Notlage „tagelang abzutauchen“, das wäre „einem Kaliber“ wie dem früheren NRW-Umweltminister Johannes Remmel nicht passiert, sagt ein ehemaliger Landtagsabgeordneter der Grünen im Gespräch mit unserer Zeitung. Es geht um das Krisenmanagement von NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul nach dem Messerattentat von Solingen. „Es ist leider ein großer Unterschied, sich für ministrabel zu halten und ministrabel zu sein“, stichelt der langjährige Wegbegleiter.
Josefine Paul macht seit 2010 im Düsseldorfer Landtag Politik. Nach ihrem Aufstieg zur Ministerin bei der Bildung der schwarz-grünen Koalition gab es Kritiker, die ihr das Amt nicht zugetraut haben – und sich jetzt in ihren Vorahnungen bestätigt sehen. Unterstützer von Paul halten die Anwürfe aber für „haltlos“ und „extrem unfair, wenn man genauer hinguckt“.
Bei der Messerattacke von Solingen wurden drei Menschen getötet und acht weitere zum Teil schwer verletzt. Am Abend nach dem Anschlag wurde der Asylbewerber Issa al-Hassan in der Nähe des Tatorts gefasst. Der 26-jährige Syrer hätte bereits im Sommer 2023 abgeschoben werden sollen. Wieso war der Islamist noch im Land? Wurde die Bluttat durch Behördenversagen begünstigt? Ein Fall, der politische Sprengkraft birgt.
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Innenminister Herbert Reul fährt noch in der Nacht nach Solingen
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) ist nach dem Anschlag schnell am Tatort. Sein Haus ist auf den Umgang mit Krisensituationen eingestellt. Kommt es zu Amoklagen oder außerordentlichen Ereignissen, informiert das Lagezentrum den Bereitschaftsdienst in der Polizeiabteilung. Dort wird entschieden, ob der Minister verständigt wird. Die Alarmkette funktioniert zuverlässig rund um die Uhr.
Reul ist dafür bekannt, nicht lange zu zaudern. Der Anschlag ereignet sich um 21.37 Uhr, kurz nach Mitternacht wird der Innenminister zu Hause abgeholt und nach Solingen gefahren. Noch in der Nacht spricht der CDU-Politiker in einer Sondersendung des WDR sichtlich erschüttert in die Kamera. Die Suche der Polizei nach dem Täter fällt in seine Verantwortung.
Schon am Samstag verdichten sich Hinweise, dass der Gesuchte abschiebepflichtig gewesen sein könnte. Nach der Festnahme um 22.47 Uhr wird aus der Vermutung Gewissheit. Am Sonntagmorgen versucht Reul, Flüchtlingsministerin Paul per SMS auf dem Handy zu erreichen, um sie „vorzuwarnen“. Eine Antwort erhält er zunächst nicht. Eine Merkwürdigkeit, die Fragen aufwirft.
Ministerin Paul war bei einer Gedenkveranstaltung in Frankreich
Paul ist an diesem Wochenende in ihrer Eigenschaft als Jugendministerin nach Frankreich gereist. Dort findet eine Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag des Massakers deutscher Soldaten in Maillé statt. Bei dem Treffen handelt es sich um ein Erinnerungsprojekt für Jugendliche, an dem auch der Landschaftsverband Rheinland beteiligt ist. Paul hält eine Rede. Die SMS von Reul sieht sie zwar, ruft ihn aber nicht zurück.
Warum? Sollte ein Kabinettsmitglied nicht sofort reagieren, wenn eine Rückrufbitte des Innenministers auf dem Handydisplay erscheint? Zumal in einer Terrorlage? Paul sieht offenbar keine unmittelbare Notwendigkeit, persönlich mit Reul zu sprechen. Sie selbst sagt, sie habe an diesem Tag eine Rede halten müssen und deshalb ihren persönlichen Referenten gebeten, im Innenministerium nachzufragen, worum es gehe. So vergehen wertvolle Stunden.
Erst im Laufe des Tages wird Paul klar, dass sie bei der Aufklärung der Hintergründe des Anschlags von Solingen dringend in Düsseldorf benötigt wird. Sie bricht den Aufenthalt ab und tritt die Rückreise an. Bislang hatte Reul in Solingen die Fragen der Journalisten beantwortet. Doch nun ist er offenbar etwas ungeduldig geworden und weist öffentlich daraufhin, seine Kollegin Paul sei für die Beantwortung der Fragen zum Aufenthaltsstatus des Täters zuständig. Aber wo ist die Ministerin? Und wieso äußert sie sich nicht?
Flüchtlingsministerium hat keine Routine im Umgang mit Krisen
Ursache eins: Im Gegensatz zum Innenministerium, in dem es klare Hierarchien gibt und im Zweifel das Befehlsprinzip gilt, hat das Flüchtlingsressort keine Routine im Umgang mit Krisensituationen. Das wird jetzt überdeutlich. Es ist Sonntag, und die Ansprechpartner bei der Bezirksregierung in Detmold und in den zuständigen Ausländerbehörden sind nur schwer zu erreichen. Die Neigung, außerhalb der Dienstzeiten auf Anfragen zu reagieren, ist in der NRW-Verwaltung nicht weit verbreitet.
Ursache zwei: Paul ist eine akribische Politikerin. Während andere ihre Unwissenheit bisweilen durch einen selbstsicheren Auftritt kaschieren, will die Politikerin aus dem Münsterland keinesfalls vor die Presse treten, bevor für sie selbst nicht alle Fragen geklärt sind. Eine Strategie, die ihr jetzt den Vorwurf einbringt, sich weggeduckt zu haben.
Im politischen Geschäft weiß man, dass Politiker meist nicht über konkrete Pannen, sondern über falsche Aussagen bei der Aufarbeitung von Fehlern stolpern. Die Angst, Details zu übersehen oder falsche Angaben zu machen, ist auch bei der Aufklärungsarbeit im Paul-Ministerium omnipräsent. So vergeht noch der komplette Montag nach dem Anschlag vollständig damit, die Ministerin „aufzuschlauen“. „Spätestes am Abend hätte Paul sich äußern müssen“, sagt ein Koalitionsinsider. „Das wäre die letzte Ausfahrt gewesen, um keinen Schaden zu nehmen. So hat sie sich selbst in Bedrängnis gebracht.“
Erst am Dienstag lädt die Ministerin die Journalisten zu einem Hintergrundgespräch nach Düsseldorf ein. Dort trägt sie erstmals vor, was bei der Abschiebung des Attentäters genau schiefgelaufen ist. Es wirkt so, als sei die Ministerin selbst überrascht darüber, wie fehleranfällig und „dysfunktional“ das Abschiebesystem ist. Hat sie das wirklich nicht gewusst? Obwohl sie originär zuständig ist? Oder war es ihr egal? Erst, nachdem drei Menschen gestorben sind, kommen durch die Ausleuchtung des Einzelfalls frappierende Missstände ans Licht.
Fehler A: Der Syrer wird am Morgen der geplanten Abschiebung nicht in seinem Zimmer in der Paderborner Flüchtlingsunterkunft angetroffen. Die Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) zieht wieder ab. Die Einrichtungsleitung hält es nicht für nötig, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass Issa al-Hassan bereits am Mittag wieder greifbar gewesen wäre.
Fehler B: Die ZAB fasst ihrerseits nicht mehr nach. Dort geht man davon aus, dass die Sechs-Monats-Frist, die für die Rückführung von Asylbewerbern nach Bulgarien gilt, nicht eingehalten werden kann. Bulgarien nimmt pro Woche nur zehn Asylbewerber aus dem Bundesgebiet per Direktflug zurück. Deswegen ist die Warteliste ellenlang. Syrer, die es schaffen, einmal der Abschiebung zu entgehen, haben beste Chancen, dauerhaft in Deutschland bleiben zu können.
Paul und Reul verkörpern die unterschiedlichen Pole der Koalition
Der Landtag wird in einer Sondersitzung des Innenausschusses über die Hintergründe des Falls Issa al-Hassan informiert. Danach treten Paul und Reul erstmals gemeinsam nach dem Anschlag vor die Kameras. Das Medieninteresse ist groß - würden Spannungen zwischen den beiden sichtbar werden?
Paul und Reul verkörpern die unterschiedlichen politischen Pole der schwarz-grünen Koalition. Reul ist ein „alter Fuchs“, der mit allen Wassern gewaschen ist und sich in der Rolle des innenpolitischen Hardliners gefällt. Paul zählt zum linken Flügel ihrer Partei und war früher Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft Schwulen und Lesbenpolitik. „Kulturell treffen da zwei Welten aufeinander“, heißt es in der CDU-Fraktion. Bei dem Auftritt spürt man davon nichts. Reul zeigt sich loyal und hilfsbereit.
Paul selbst verteidigte sich im Integrationsausschuss am Mittwoch: „Ich habe kurz nach der schrecklichen Tat angekündigt, dass mein Ministerium alle Hintergründe und Details zur nicht erfolgten Dublin-Überstellung prüfen wird. Wir haben diese Aufklärung fest zugesagt. Entscheidend ist, dass aus diesen Erkenntnissen nun die richtigen Schlüsse gezogen werden.“ Schon zuvor hatte sie gesagt: „Ich will, dass sich die furchtbaren Geschehnisse in Solingen nicht wiederholen und wir tun alles Notwendige dafür, dass so etwas künftig nicht mehr möglich sein wird.“
Bei der CDU gibt es zum Teil schon länger gewachsene Ressentiments gegen die Frauenrechtlerin. Viele halten sie für zu rechthaberisch, spaßbefreit und unzuverlässig. Paul kümmere sich zwar um ihr Lieblingsthema Gleichstellung, aber beim Reizthema Flüchtlingsverteilung lasse sie die Kommunen im Stich. „Manche hätten schon Lust gehabt, sie auf die Lichtung zu schieben“, sagt ein langgedientes Fraktionsmitglied hinter vorgehaltener Hand. „Solingen hätte die Chance sein können, um sie los zu werden.“
Das sieht man in der Regierungszentrale aber ganz anders. Dort hat man zwar registriert, dass Paul – im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Joachim Stamp (FDP), das Thema Rückführung medial nicht an die große Glocke hängt, weil sie damit als Grüne politisch nicht punkten kann. Aber: Die Zahl der Abschiebungen ist 2023 auf sogar 3600 angestiegen. „Über Pauls Krisenkommunikation lässt sich streiten. Aber dass sie beim Thema Abschiebungen auf der Bremse stünde, kann man ihr nicht vorwerfen“, heißt es.
Hinzu kommt: NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) hat kein Interesse, Paul anzuzählen. Im Gegenteil. In seiner Regierungserklärung dankt er der Ministerin ausdrücklich für ihre Arbeit – und nennt ihren Namen noch vor dem von Herbert Reul. Eine Geste, die von den Grünen wohlwollend registriert wird. Die Kunst, mit den Grünen klarzukommen, sei auch mit Blick auf die schwierigen Bündniskonstellation, die möglicherweise nach der Bundestagswahl im kommenden Jahr anstünden „viel Wert“, heißt es in der Regierungszentrale. NRW solle das Referenzmodell für Schwarz-Grün im Bund bleiben: „Hendrik ist ja dafür bekannt, dass er Schlaglöcher möglichst weiträumig umfährt.“