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Anschlag von SolingenDas Versagen der Behörden bei der Abschiebung

Lesezeit 5 Minuten
Der mutmassliche Täter des Messerangriffs von Solingen wird von SEK-Beamten zu einem Hubschrauber gebracht. Er hätte längst ausgewiesen werden können.

Der mutmaßliche Täter des Messerangriffs von Solingen wird von SEK-Beamten zu einem Hubschrauber gebracht. Er hätte längst ausgewiesen werden können.

Als der mutmaßliche Attentäter abgeschoben werden sollte, war er nicht auffindbar. Die zuständigen Behörden unternahmen aber nichts, um ihn zu finden.

Es heißt, er „signalisiere Gesprächsbereitschaft“. Seitdem Issa al H. in die Justizvollzugsanstalt Düsseldorf gebracht wurde, wird der mutmaßliche Dreifachmörder von Solingen verhört.

Nach wie vor prüfen die Staatsschützer den Echtheitsgrad des Bekennervideos, das die Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) veröffentlichte. Wie der „Kölner Stadt-Anzeiger“ aus Sicherheitskreisen erfuhr, haben die Ermittler in einem Gully ein Handy sowie ein Tablet gefunden. Die Geräte waren jedoch völlig durchnässt; sie müssen erst trocknen, bevor sie überprüft werden können. Noch ist zudem nicht klar, ob sie dem Tatverdächtigen gehören und wieder aktiviert werden können.

Dickicht an Zuständigkeiten

Das Abschiebedesaster um den mutmaßlichen Attentäter offenbart erneut ein komplexes Dickicht an Zuständigkeiten, in dem tausende abschiebepflichtige Migranten durchs Netz schlüpfen. Bis Ende Juli dieses Jahres sollten laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) 25.000 „Dublin-Flüchtlinge“ ausreisen – Menschen also, für die ein anderes europäisches Land zuständig ist. Tatsächlich aber wurden gerade einmal 3512 überstellt.

Oft konnten sich die irregulären Migranten rechtzeitig vor dem Abschiebetermin absetzen. Was nach Recherchen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ in NRW wohl fast schon Alltag ist. Im vergangenen Jahr jedenfalls hat deutlich mehr als die Hälfte der Rückführungen trotz richterlichem Beschluss nicht stattgefunden. Nach Angaben des nordrhein-westfälischen Flüchtlingsministeriums kam es zwar zu 3663 Rückführungen, in 3967 Fällen hätten diese aber nicht durchgeführt werden können.

1877 Abschiebe-Kandidaten wurden 2023 in NRW nicht gefunden

Bei den genannten Zahlen handele es sich lediglich um die „Rückführungsflüge von Personen in der Zuständigkeit der nordrhein-westfälischen Ausländerbehörden“, heißt es in einem Papier des Ministeriums. „Eine Statistik zu der Gesamtzahl der gescheiterten Abschiebungen und Überstellungen“ indes, „die auf dem Landweg vollzogen werden sollten, liegt der Landesregierung nicht vor.“

„Wenn etwas schief gelaufen ist, muss das klar benannt werden“, sagte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst in Solingen zur misslungenen Abschiebung. Wüst ist bei einem Treffen am Gedenkort zu sehen.

„Wenn etwas schief gelaufen ist, muss das klar benannt werden“, sagte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst in Solingen zur misslungenen Abschiebung.

Zwar wurde auch bei den Flügen nicht vollständig erfasst, wieso die Abschiebungen nicht funktioniert haben. Immerhin aber gibt es Informationen zu 2757 gescheiterten Versuchen. Der mit weitem Vorsprung am häufigsten genannte Grund für die Pleiten ist, dass die Ausreisepflichtigen schlichtweg nicht an ihrem gemeldeten Wohnort waren, als die Polizei sie abholen wollte: 1877 Personen waren verschwunden, also etwa Dreiviertel der untersuchten Fälle. Und bei 178 Ausreisepflichtigen, die angetroffen wurden, war der Widerstand so massiv, dass man sie nicht in ein Flugzeug setzen konnte.

Nach späterem Attentäter wurde nicht gesucht

Der Solingen-Attentäter Issa al H. ist am 25. Dezember 2022 nach Deutschland eingereist. Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ hatte der Syrer die Route über die Türkei, Bulgarien, Österreich nach Deutschland gewählt. Laut Sicherheitskreisen wollte er unbedingt nach Deutschland. Im Interview mit einer Ausländerstelle gab er an, dass ein Onkel hier lebe. „Wir haben den Onkel aber nie gefunden“, berichtete ein hoher Beamter.

Dann begann das Katz-und-Maus-Spiel. Da seine Fingerabdrücke bereits in der EU-biometrischen Datenbank Eurodac für Asylbewerber in Bulgarien gespeichert waren, fanden die Behörden schnell heraus, dass der Tatverdächtige laut dem Dubliner-Abkommen in Deutschland nichts zu suchen hatte. Mit Sofia arrangierte man die Übernahme des Flüchtlings. Im Februar 2023 erhielt al H. den Ausweisungsbescheid. Einen Monat später reichte der Syrer, vertreten durch eine Anwältin aus Dresden, dagegen erfolglos Klage beim Verwaltungsgericht Minden ein. Und als die zuständigen Mitarbeiter aus dem Bielefelder Ausländeramt am 3. Juni vergangenen Jahres dann in seiner Flüchtlingsunterkunft in Paderborn zwecks Abschiebung anklopften, war er nicht da.

Ausländeramt ließ wichtige Frist verstreichen

Bis heute wundern sich mit dem Fall vertraute Insider darüber, „warum man sich nicht wenigstens bei den Nachbarn oder beim Wachschutz über den Verbleib des Gesuchten erkundigt hat“. Tatsächlich aber blieb es offenbar bei dem Kurzbesuch, weitere Nachforschungen unterblieben. Die sechsmonatige Frist, um den 26-Jährigen nach Bulgarien zu überstellen, verstrich. Es wurde auch versäumt, offiziell festzustellen, ob der Gesuchte untergetaucht ist. Dann nämlich kann die Frist für eine Dublin-Überstellung – also eine Abschiebung in ein anderes, zuständiges europäisches Land – um zusätzliche zwölf Monate verlängert werden.

Die zuständige Ausländerbehörde in Bielefeld, die für die Ermittlungen zuständig gewesen wäre, unternahm dem Vernehmen nach aber nichts. Auch ein Haftbefehl, durchaus möglich, wurde nicht ausgestellt. Issa al H. tauchte dann vier Tage nach dem Ende der Deadline wieder auf. „Der hatte gute Berater aus der Flüchtlingshilfe oder durch spezielle Anwälte – der wusste genau, was er tat“, sagt ein Staatsschützer.

Wegen Behördenversäumen musste der Asylantrag in Deutschland bearbeitet werden

Für das Asylverfahren, das neu starten musste, waren jetzt die deutschen Behörden verantwortlich. Al H. wurde nach Solingen verlegt, erhielt den „subsidiären Status“ und staatliche Unterstützung. Dieser Status wird erteilt, wenn im Heimatland der Betroffenen bewaffnete Konflikte stattfinden.

Obwohl zuletzt das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster entschieden hat, dass in Syrien für die Zivilbevölkerung keine Gefahr mehr für Leib und Leben besteht, blockiert das Auswärtige Amt nach wie vor eine verstärkte Rückführung syrischer Menschen. Das Ministerium stützt sich auf einen Lagebericht, der den gesamten syrischen Staat als Bürgerkriegsgebiet einstuft. Deshalb scheiterten in der jüngeren Vergangenheit auch etliche Versuche des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Syrer abzuschieben.

NRW-Ministerpräsident Wüst fordert Aufklärung

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) fordert jetzt Aufklärung zur gescheiterten Abschiebung von al H.: „Wenn etwas schiefgelaufen ist, muss das klar benannt werden.“ Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) teilte auf Anfrage mit, ihr Haus durchleuchte „aktuell die Hintergründe zum Verfahren und zur gescheiterten Rückführung mit aller gebotenen Dringlichkeit und notwendiger Gründlichkeit und Konsequenz“.

Sie habe nach der Festnahme des mutmaßlichen Täters „einen Bericht bei der Zentralen Ausländerbehörde in Bielefeld angefordert und alle notwendigen Informationen beim Bamf erbeten“. Klar sei: „Es geht nun um eine lückenlose Aufklärung, aus der wir dann Rückschlüsse ziehen müssen und werden, wie wir alle beteiligten staatlichen Stellen künftig besser aufstellen.“