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Digitalstrategie an NRW-SchulenPhilologenverband mit vernichtender Kritik

Lesezeit 6 Minuten
Zwei Jungen sitzen an einem Schulpult und lernen auf einem Tablet.

Tablets allein sind noch keine Digitalstrategie.

Alle sprechen von Digitalisierung in Schulen. Nun holt der Philologenverband NRW zum Gegenschlag aus. Vermeintliche Vorzüge digitaler Medien ließen sich empirisch nur bedingt untermauern.

Wenn es an den Schulen im Land um das Lehren und Lernen in der digitalen Welt so bestellt ist, wie um den digitalen Auftritt des Schulministeriums NRW zu eben jenem Thema, dann sollte uns bange sein um die Generation der so gennannten „digital natives“, derjenigen also, die in der digitalen Welt aufwachsen. Das Ministerium beginnt eine Information zu einem der großen Schulthemen unserer Zeit, für das es nach eigenen Angaben zwischen 2020 und 2025 zwei Milliarden Euro „zur Umsetzung der Ziele und Maßnahmen“ zur Verfügung stellt, mit einem Video. Passt ja, möchte man meinen.

Doch dann: Dieses Video, drei Minuten und 41 Sekunden lang, ohne Ton, ist eine Kamerafahrt durch ein dunkles Universum mit hellen Lichtpunkten, untereinander durch Lichtstrahlen verbunden. Es soll wohl ein Eintauchen in die digitale Welt suggerieren und hätte als Einstieg durchaus getaugt. „Digitalstrategie Schule NRW“ und „Bildungsland NRW. Hier wachsen Talente“ poppen als Schriftzüge auf. Einmal. Nochmal. Wieder. Und immer wieder. Es nimmt kein Ende. Elf Mal. Jeweils. Hat sich der Produzent dieses Videos bei der Kamerafahrt durch die Lichtpunkte selbst hypnotisiert?

Spärlich eingestreut gibt es wenige Fakten zur #DigitalstrategieSchuleNRW des Landes. Die zwei Milliarden Euro werden erwähnt. Und zwei Schülerausstattungs-Programme, für die 178 und 184 Millionen Euro investiert worden seien. Als garantierten die großen Zahlen großen Erfolg. Dann wird Yvonne Gebauer (FDP) zitiert, Vorgängerin der jetzigen Schulministerin Dorothee Feller (CDU), unter deren Ägide das „Impulspapier II“ zur Gestaltung des Lernens in der digitalen Welt erstellt wurde. Die Landesregierung habe „eine digitale Aufholjagd versprochen und hingelegt“, sagt sie.

Geleitet von „ökonomischen, bildungsfernen Interessen“

Im eigentlichen Impulspapier stehen ein paar Ideen mehr zur Digitalisierungsstrategie für die Schulen in NRW, doch die hat Karl-Heinz Dammer, Professor an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, nun exemplarisch für die Digitalisierungsstrategie der deutschen Bildungspolitik auseinandergenommen. Er hat für den Philologenverband NRW ein Gutachten erstellt und attestiert den Plänen der Politik unter anderem, dass sie von „ökonomischen, bildungsfernen Interessen“ geleitet seien.

Demmer bezweifelt dabei den umfänglichen Nutzen für Schülerinnen und Schüler. Er betont, dass die „den digitalen Medien zugeschriebenen Vorzüge sich bisher nur sehr bedingt empirisch untermauern“ ließen. Und fordert deshalb, dass „Unterricht nicht von den technischen Möglichkeiten, sondern von seinen fachlichen und überfachlichen Bildungszielen her gedacht“ werden müsse. Es gebe auch keinerlei Belege für mehr Chancengleichheit durch den Einsatz digitaler Medien. Der Pädagoge schreibt: „Gesellschaftlich entstandene Probleme können nicht allein technisch gelöst werden.“

Karl-Josef Sulski, Schulleiter am Otto-Hahn-Gymnasium (OHG) in Bergisch Gladbach, hält dagegen: „Das ist eine Diskussion auf der Metaebene, die kann man führen, das schadet nichts, aber sie geht an der Wirklichkeit in der Schule vorbei. Sie hilft uns in unserem Alltag nicht.“ Auch er sorgt sich um die „digital natives“, ist aber überzeugt, dass seine Kolleginnen und Kollegen sie gut im pädagogischen Blick haben. An seiner Schule mit gut 90 Kollegen seien mehr als 400 Tablets und Computer im Einsatz, jeder Klassenraum sei mit einer interaktiven Tafel ausgestattet und im ganzen Haus gebe es bis in den letzten Winkel schnelles W-Lan. „Die Schule ist bereits in der Digitalität angekommen und beschäftigt sich konkret, konstruktiv und kritisch mit deren Auswirkungen und der Weiterentwicklung entsprechender Konzepte“, sagt er.

Am OHG sei der Diskurs in vollem Gange und Sulski will nicht, dass er „durch eine abstrakte Metadiskussion aufgehalten“ wird. Die theoretische Kritik an den Digitalisierungs-Ideen der Politik könnte aber genau das bewirken, so seine Sorge: „Kolleginnen und Kollegen, die die Digitalisierung grundsätzlich ablehnen, könnten das instrumentalisieren und damit die konkrete Auseinandersetzung lahmlegen.“

Verband wünscht sich Beteiligung der Lehrer an der Digitalisierungsstrategie

Sabine Mistler, die Vorsitzende des Philologenverbandes NRW, beklagt schon länger, dass das „Impulspapier II“ des Schulministeriums „ohne Beteiligung der Lehrerverbände aus dem Hut gezaubert worden“ sei. „Jene, die den Prozess maßgeblich umsetzen müssen, sind nicht eingebunden worden“, sagt die Sport- und Englischlehrerin. Das Gutachten solle nun als Grundlage dienen, um „in einen ernst zu nehmenden Diskurs“ mit der neuen Schulministerin zu gehen: „Wir wünschen uns, dass wir uns wissenschaftliche Begleitung ins Boot holen und mit Vorsicht und Bedacht und einer Überprüfung an die Digitalisierung herangehen.“

Sulski befürwortet das. Betont aber auch: „Die Überprüfung passiert natürlich in der täglichen Arbeit schon, die Kolleginnen und Kollegen setzen die digitalen Tools ja nicht einfach unreflektiert ein, sie können mehr, als man ihnen zutraut.“ Das eigentliche Problem sieht er nicht im Impulspapier II des Ministeriums, das enthalte durchaus gute Anstöße: „Aber es fehlen uns Zeit-Ressourcen für die Umsetzung.“ Die Digitalisierungsbeauftragten an den Schulen bekämen eine unterrichtsfreie Stunde für ihre Aufgaben. Und das auch erst seit diesem Jahr. „Da kann man das Rad nicht neu erfinden“, sagt Sulski. An der Schnittstelle zwischen den technischen Möglichkeiten und der pädagogisch zielgerichteten Ausgestaltung bräuchte es an seiner Schule mindestens eine halbe Stelle zur Bewältigung der Aufgaben.

Sabine Mistler ist Vorsitzende des Philologenverbands NRW

Sabine Mistler vom Philologenverband fordert mehr Beteiligung der Lehrerinnen und Lehrer.

Mehr zeitliche Ressourcen für Lehrerinnen und Lehrer – auch Gewerkschafterin Sabine Mistler formuliert das als wichtigste Forderung. Selbst ohne Digitalisierung seien die Aufgaben immens: Mehr Flüchtlingskinder müssten integriert werden, die Lerngruppen seien durch Corona heterogener geworden, es gelte mehr psychosoziale Defizite aufzuarbeiten, und die Kernlehrpläne für das laufende Schuljahr müssten ja auch erfüllt werden.

Dazu komme nach Ansicht von Mistler: „Es darf durchaus bezweifelt werden, dass mehr Digitalisierung immer zu besserer Bildung führt.“ So könne man etwa Kinder mit Defiziten nicht einfach vor den Bildschirm setzen und von Algorithmen ausgegebene Aufgaben bearbeiten lassen. „Es bedarf immer einer begleitenden, fachlich, pädagogisch und methodisch-didaktisch hervorragend ausgebildeten Lehrperson, die auch nachfragen und erklären kann, warum etwas nicht verstanden wird.“

Der renommierte Bildungsforscher Gerd Gigerenzer argumentiert in eine ähnliche Richtung. Es reiche nicht aus, Tablets und schnelles Internet an die Schulen zu bringen, sagt er: „Was wir haben, ist ein Digitalenthusiasmus. Jeder ist dafür, anstatt zu hinterfragen: Wo sind die Vorteile, wie kann man sie nutzen, was sollte man besser lassen.“ Studienergebnisse zeigten, dass „90 Prozent oder mehr der jungen Menschen nicht wirklich wissen, wie man Fakten von bloßen Meinungen oder Fake News unterscheiden kann“. Ihnen fehle somit eine Kernkompetenz für den Umgang mit und die Teilhabe in der digitalen Welt. Über die Schulen sagt Gigerenzer: „Aufklärung scheint kaum zu passieren.“

Gerd Gigerenzer ist Direktor Forschungsbereich Adaptives Verhalten und Kognition.

Gerd Gigerenzer kritisiert den bloßen „Digitalenthusiasmus“. Er wünscht sich eine Diskussion darüber, was nützlich sei und was man besser lassen sollte.

Praktiker Karl-Josef Sulski ist auch hier nicht ganz einverstanden mit den Erkenntnissen der Theoretiker. Kindern und Jugendlichen einen kritischen Umgang mit den digitalen Medien beizubringen, sei das täglich Brot der Kolleginnen und Kollegen und er sehe in vielen Unterrichtsstunden und Projekten, wie ernst sie diese Aufgaben nehmen: „Aber wir sind da in einer Erziehungspartnerschaft mit den Elternhäusern und der Gesellschaft insgesamt.“