Der 16-Jährige war selbstmordgefährdet. Die Staatsanwaltschaft geht von rechtswidrigem Waffeneinsatz durch die Polizeibeamten aus.
Einsatz in DortmundEin 16-Jähriger starb durch ihre Schüsse – Jetzt startet der Prozess gegen die Polizisten
Die tödliche Tragödie um den 16-jährigen senegalesischen Geflüchteten Mouhamed Dramé im Innenhof der katholischen Jugendhilfeeinrichtung „St. Elisabeth“ in Dortmund nimmt an jenem 8. August 2022 am späten Nachmittag ihren Lauf. Zu jener Zeit sitzt der Jugendliche aus der Außenwohngruppe an einer Mauer und hält sich ein Haushaltsmesser mit einer 20 Zentimeter langen Klinge gegen den Bauch. Er wirkt apathisch. Ein Heimbetreuer hat die Polizei mit dem Hinweis alarmiert, dass Dramé sich womöglich töten wolle.
Von Dienstag an müssen sich fünf Einsatzkräfte vor dem Dortmunder Schwurgericht verantworten. Drei von ihnen wegen gefährlicher Körperverletzung, der Dienstgruppenleiter wegen der Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung und letztlich der Maschinenpistolen-Schütze wegen Totschlags.
Einsatzleiter befiehlt einer Kollegin: „Vorrücken und einpfeffern!“
Zwölf Polizisten rücken am 8. August an, teilweise in zivil. Hektische Funksprüche, die in der Leitzentrale eingehen, beweisen, dass die Lage kurz darauf aus dem Ruder läuft. Gegen 16.45 Uhr befiehlt der Einsatzleiter einer Kollegin den Suizid gefährdeten Jugendlichen, mit Reizgas, außer Gefecht zu setzen: „Vorrücken und einpfeffern! Das volle Programm, die ganze Flasche.“ Einsatzkräfte sollen an den Zaun treten, der eine Seite des Innenhofs nach außen hin abschirmt, „und schießt von da“. Aus etwa vier Metern Entfernung sprüht eine Polizistin durch den Zaun ihre Dose halbleer.
Das Pfefferspray wirkt nicht, vielmehr erhebt sich Dramé. Mit dem Messer in der Hand geht er den engen Innenhofschlauch entlang, den Polizisten entgegen. Zwei Beamte schießen Taser auf den Jugendlichen ab. Dramé hat Schmerzen, läuft jedoch weiter. Geschätzt 0,771 Sekunden später erfolgen sechs Schüsse aus der Maschinenpistole des Sicherungsschützen am Zaun. Von fünf Projektilen getroffen fällt der Jugendliche zu Boden, um 18.02 Uhr stirbt er im Krankenhaus. So steht es in der Anklage der Staatsanwaltschaft, die der „Kölner Stadt-Anzeiger“ einsehen konnte.
Unklar, wie Dramé das Messer hielt
Oberstaatsanwalt Carsten Dombert geht in seiner Anklage von einem rechtswidrigen Einsatz aus. Eine Notwehrsituation lag aus seiner Sicht nicht vor. Anstatt Pfefferspray, Elektroschocker und letztlich der Maschinenpistole hätte es ein milderes Mittel geben müssen, um den psychisch auffälligen suizidgefährdeten Geflüchteten unter Kontrolle zu bringen. Der Fall hat für enormes Aufsehen gesorgt. Demonstranten zogen durch die Ruhrmetropole und wetterten gegen die Polizeigewalt. Politiker stellten den Verdacht eines rassistisch motivierten Verbrechens in den Raum.
Viele Fragen bleiben bisher ungeklärt. So räumte selbst der Ankläger ein, dass bisher nicht klar sei, wie Dramé das Messer gehalten habe, als er sich den Polizisten näherte. Die Vernehmungen der Augenzeugen von Polizei und Mitarbeitern der Jugendhilfe gehen hier auseinander. Mal richtete der 16-Jährige das Messer nach unten oder aber er umklammerte es in Bauchhöhe mit nach oben zeigender Klinge. Kein Zeuge habe behauptet, dass Dramé mit „nach vorne gestreckter Armhaltung“ die Waffe gehalten habe, so die Staatsanwaltschaft.
Ferner bleibt ungewiss, wie schnell sich der junge Senegalese auf die Polizisten zu bewegte. Die Angaben variieren zwischen schnellen Schritten bis hin zu rennend. Alle Einsatzkräfte befanden sich nur wenige Meter von dem Jugendlichen entfernt. „Das ist dann eine heikle Lage. In der Ausbildung lernen die Polizeibeamten zu schießen, sollte sich eine Person mit einem Messer bis auf sieben Meter nähern“, erläutert der Beamtenrechtler Christoph Arnold, der seit gut zwei Jahrzehnten Polizisten vertritt. „Es ist das einzige Mittel, um sich noch zu verteidigen.“
Dortmunder LWL-Klinik für Psychiatrie wies schwer depressiven Dramé am Tag vor seinem Tod ab
Oberstaatsanwalt Dombert vertritt eine andere Auffassung. Der Zugriff sei allein schon deshalb unverhältnismäßig gewesen, weil die Beamten den jungen Geflüchteten vor dem Einsatz von Pfefferspray und Taser nicht dazu aufgefordert hätten, sein Messer hinzulegen. Zudem hätte man mit einem Dolmetscher diese statische Lage lösen können. Die Anklage lässt allerdings offen, ob die Zeit gereicht hätte, um einen Selbstmord zu verhindern.
Im Prozess wird sich auch die Dortmunder LWL-Klinik für Psychiatrie erklären müssen. Am Tag vor seinem Tod war Dramé kurz nach Mitternacht bei der Polizeiinspektion Nord aufgetaucht. Immer wieder rief er „Hospital, Hospital.“ Im brüchigen Spanisch erklärte der junge Mann, dass er mit Selbstmordgedanken kämpfe. Bei der Begutachtung in der Klinik bescheinigte die Ärztin dem Patienten eine schwere depressive Episode. Da der Teenager bekundete, dass er nicht mehr daran dachte, sich umzubringen, wurde er entlassen. Eine akute Eigengefährdung wurde nicht mehr festgestellt. Tags darauf saß Mouhamed Dramé mit einem Messer am Bauch auf dem Innenhof seiner Jugendhilfe. Gegen 16.47 Uhr fielen die tödlichen Schüsse.