Sie kauft Schuhe, Halstücher, Taschen, Stifte, Bastelmaterialien, Deko, Hundeartikel, Bücher. Wahllos. Am Ende hat sie fast 30.000 Euro Schulden. Wie eine Beratung der Drogenhilfe Köln Melanie Schirmer half.
Kaufsucht„Wenn ein Paket kommt, denke ich, wo tust du das hin, damit dein Mann das nicht sieht?“
Schon als Kind sei da der Neid gewesen. Während andere Kinder Marken-Kleidung trugen und Tennis spielten, gab es für Melanie Schirmer (Name geändert) wenig neue Klamotten, teure Trainingsstunden schon gar nicht. Denn an ausreichend Geld habe es in ihrer Familie eigentlich immer gemangelt. Die finanzielle Sorge saß immer mit am Küchentisch. „Meine Eltern hat es sehr bedrückt, dass nicht so viel Geld da war.“ Unzufrieden habe sie das als Kind gemacht, sagt Schirmer heute. Mehr habe sie haben wollen, so viel wie die anderen eben auch. Also beschloss sie ihren Klassenkameraden eben nachzueifern – ohne die finanziellen Möglichkeiten dafür zu haben.
Schirmer erinnert sich: „Ich habe oft über meine Verhältnisse gelebt.“ In der Schule habe sie sich zum Beispiel von Freunden Geld geliehen. Das habe sie zwar jedes Mal zurückgezahlt. „Aber ich habe immer trotzdem dann etwas gewollt, wenn ich gerade kein eigenes Geld hatte.“ Auch die ersten Möbel nach dem Auszug wurden auf Raten gekauft. Aber Melanie Schirmer investiert im Mangel nicht klug, sie kauft Sachen, die sie nicht braucht: Schuhe, Halstücher, Taschen, Stifte, Bastelmaterialien, Deko, Hundeartikel, Bücher. Wahllos. „Es geht mir dann gar nicht um den Artikel selbst, sondern um die Emotion, die in dem Moment damit in Verbindung steht.“
Kaufsucht: Drogenhilfe Köln bietet in Brühl und Bergheim ambulante Reha an
Jeanette Wolff, Suchttherapeutin und Diplom-Sozialpädagogin, kennt Fälle wie den von Schirmer gut. Seit 26 Jahren arbeitet sie bei der Drogenhilfe Köln. In Brühl und Bergheim bietet sie eine ambulante medizinische Rehabilitation und Beratung für Menschen mit Kaufsucht an. Die Zahl der Betroffenen ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Besonders bei den Jüngeren sei eine Zunahme nachweisbar. Ursachen sieht Wolff vor allem im Internetshopping, das besonders in der Corona-Zeit bei manchen Menschen krankhafte Ausmaße angenommen habe.
Kaufsucht ist laut Jeanette Wolff in Deutschland nach wie vor keine anerkannte Krankheit. Im ICD-10, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, ist die Kaufsucht allerdings im Kapitel Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen gelistet. Es handle sich um eine Impulskontrollstörung, wie Wolff sagt. Auch Rentenversicherungsträger und Krankenkassen finanzieren die Behandlung von Menschen mit Kaufsucht laut der Expertin schon jetzt unter bestimmten Umständen.
Sale-Angebote wie beim Black Friday: Glücksfeuer im Gehirn
In Schirmers Gehirn entfacht irgendwer ein Glücksfeuerwerk, wenn ein Ding in ihren Besitz übergeht. Jeanette Wolff erklärt, warum: Beim Kauf werde Dopamin ausgeschüttet, ähnlich wie bei Kokainkonsum oder beim Glücksspiel. Zudem berge ein Einkauf für Betroffene immer die Möglichkeit, unerwünschte Gefühle zu regulieren. Traurigkeit, Ärger, Stress oder auch Langeweile, Leere – all diese Stimmungen können laut der Expertin unbedachte Shoppinghandlungen auslösen.
Aber auch äußere Reize kommen in Betracht: Werbung oder Sale-Angebote wie derzeit zum Black Friday Ende November wirken wie ein Trigger. Melanie Schirmer sagt: „Mit Angeboten kriegt man mich immer.“ Jeanette Wolff weiß, dass auch Influencer, die in den Sozialen Medien Werbung für Produkte machen, Menschen zu übermäßigem Konsum verleiten können.
Geholfen, ihre Impulskontrollstörung in den Griff zu bekommen, haben Melanie Schirmer Tricks, wie zum Beispiel das Ampel-Modell. Waren werden dabei in Kategorien eingeteilt. Auf Rot steht all das, was schon einmal süchtig gekauft wurde, sagt Suchttherapeutin Jeanette Wolff. Schuhe, Schmuck, Schminke, Handys, Playstations oder Fernseher zum Beispiel.
Als Grün werden Dinge eingestuft wie Lebensmittel, Kosmetika, Haushaltswaren. Nicht immer ist damit die Kaufsucht besiegt, schließlich gebe es auch Klienten, die sich über eine Verlagerung retteten und dann eben zum Beispiel Mengen an Süßigkeiten kauften.
Viele Dinge gleichzeitig zu besitzen, löst bei Schirmer bei aller Konsumfreude, aber oft auch eine Überforderung aus. „Im Grunde mag ich es lieber übersichtlich, strukturiert und ordentlich. Dieser ganze Kram erdrückt mich. Ich empfinde das schon als Last.“
Schirmer sortiert also aus und verkauft das eben erworbene schnell wieder. Und ärgere sich dann, weil sie weniger Geld bekomme, als sie bezahlt hat. Nur um die kleinere Summe gleich wieder in ein neues Ding zu investieren. Was folgt, ist das schlechte Gewissen, meist sofort nach dem Bezahlvorgang.
Auch verführerisch: Ratenkäufe oder Finanzierungsangebote
Sehr verführerisch seien für sie auch Ratenkäufe oder Finanzierungsangebote zum Beispiel für ein Auto oder einen neuen Kühlschrank. „Wer kaufsüchtig ist, der findet auch immer wieder die Banken, die einem Geld geben.“ Eine verhängnisvolle Partnerschaft, schließlich sei dann der Weg in die Schuldenfalle oft nicht mehr weit.
Ein Berg, der immer weiter wächst. Bei Melanie Schirmer liegt die Höhe – ohne Verbindlichkeiten für Haus und Auto – irgendwann bei knapp 30.000 Euro. Jeanette Wolff kennt aber auch dramatischere sechsstellige Fälle. Eine Privatinsolvenz ist dann meist der einzige Ausweg.
Aber das finanzielle Desaster ist nur der eine Abgrund, in den Melanie Schirmer täglich blickte. Auch ihre Beziehungen leiden unter ihrer Sucht. Sie schämt sich, versteckt Dinge, die sie gekauft hat, versucht Kontoauszüge abzufangen. „Wenn ein Paket kommt, währt die Freude nur kurz; schnell denke ich, wo tust du das jetzt hin, damit dein Mann das nicht sieht.“ Versteckspiel und Lügen belasten die Ehe.
Melanie Schirmer hat die Therapie geholfen, ihr Verhalten zu reflektieren. „Ich überlege, bevor ich etwas kaufe.“ Für geheilt hält sie sich nicht. „Ich mache mir aber keine Illusion: Die Kaufsucht wird mein Leben lang Thema sein.“ Schließlich sei es unmöglich, sich vom Gegenstand ihrer Sucht komplett fernzuhalten. Um ein Spielcasino könnten Spielsüchtige einen großen Bogen machen, Melanie Schirmer dagegen wird ihr Leben lang immer wieder einkaufen müssen. Die Frage ist nur, in welchem Ausmaß und mit welcher Intention.
Hilfe für Betroffene
Die IBS – Information und Beratung zu Suchtlösungen - im Rhein-Erft-Kreis, eine Einrichtung der Drogenhilfe Köln gGmbH, bietet Erstgespräche und weiterführende Hilfen an unter 02232/18930 oder per E-Mail.
Eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Kaufsucht trifft sich jeden zweiten und vierten Mittwoch im Monat, 18.15 Uhr bis 20 Uhr, in den Räumen des Gleis 11 in Bergheim-Quadrath-Ichendorf, Frenserstraße 11. Jeden ersten und dritten Mittwoch gibt es die Möglichkeit, sich zur gleichen Zeit online zu treffen. Die Gruppe ist per E-Mail zu erreichen.