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„Ganze Liste ist eine Kapitulation“AfD schickt ihre radikalsten Kräfte nach Europa – zwei kommen aus dem Rheinland

Lesezeit 7 Minuten
Hans Neuhoff (l), Leiter der Programmkommission der AfD, unterhält sich mit Björn Höcke, Fraktionsvorsitzender der AfD in Thüringen bei der AfD-Veranstaltung «Der Nationalstaat zwischen Föderalismus und Europäischer Union» in der Stadthalle.

Hans Neuhoff aus Bonn ist Listenkandidat acht für die Europawahl, hier unterhält er sich mit Björn Höcke.

Einer der beiden AfD-Kandidaten aus NRW pflegt Verbindungen zu Rechtsextremen.

Ob sie eine populistische Aussage von ihm hören wollen, fragte Björn Höcke bei der Kandidatenkür für die Europawahl Ende Juli in das Mikrofon eines TV-Senders. Zu dieser setzte er direkt an: „Diese EU muss sterben, damit das wahre Europa leben kann.“

Zwei Rechtsaußen-Kandidaten aus NRW mit guten Chancen

Es klingt wie ein Widerspruch: Die AfD stellt Kandidaten zur Europawahl, die die Europäische Union in ihrer heutigen Form abschaffen wollen. „Dexit!“, rief die Kandidatin auf Listenplatz vier beim Magdeburger Parteitag ins Mikrofon. Die Liste für die Europawahl wird von Anhängern des rechtsextremen Flügels dominiert. Aus Nordrhein-Westfalen haben zwei Kandidaten gute Chancen auf Parlamentssitze, auch sie vertreten Positionen von Rechtsaußen. „Die ganze Liste ist eine Kapitulation“, sagt ein ehemaliger AfD-Funktionär aus NRW im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Keine Kandidaten für Europa sorgten für so viele Schlagzeilen wie die der AfD. Anfang April riet Maximilian Krah noch seiner Nummer zwei Petr Bystron, die Wahlkampfauftritte vorerst ruhen zu lassen: Bystron wird beschuldigt, Bestechungsgelder aus Russland angenommen zu haben, er selbst bestreitet die Vorwürfe. Knapp drei Wochen später schwenkte der Scheinwerfer zum Spitzenkandidaten selbst: Am 22. April verhaftete die Polizei Maximilian Krahs langjährigen Mitarbeiter Jian G., seither sitzt der gebürtige Chinese in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft wirft G. Spionage vor: Er soll seinem Heimatland Informationen aus Deutschland angeboten haben.

Es sind theaterreife Szenen, die nicht erst seit den Spionage- und Bestechungsvorwürfen den Wahlkampf der AfD durchziehen. Auf dem Parteitag in Magdeburg im letzten Sommer schienen die Kandidaten zu versuchen, das Publikum durch Übertönen ihrer Konkurrenz für sie zu überzeugen. Als sei der Parteitag eine erste Bühne, von der besonders laute, besonders radikale Kandidaten den Sprung nach Brüssel schaffen. Als sei all dies eine Vorstellung, bei der Regisseur Höcke sich entspannt zurücklehnen kann. Denn es waren vor allem seine Anhänger, die auf der Liste weit oben endeten.

Akt I: Die Vorauswahl

Am 9. Juni wird in Europa gewählt, bis zu 65 Millionen Menschen dürfen in Deutschland ihre Stimme abgeben. Umfragen zufolge haben die Skandale um ihre Spitzenkandidaten der AfD kaum geschadet: Derzeit kommen die Rechtspopulisten und -extremisten auf 17 Prozent. Damit wäre die AfD nach der CDU zweitstärkste Partei.

35 Kandidaten kürte die AfD, 96 Plätze stehen Deutschland im Parlament zu. Wäre morgen Europawahl, würden 16 Sitze an sie gehen. Nur zwei Kandidaten mit guter Chance auf einen Sitz kommen aus Nordrhein-Westfalen, dem größten Landesverband. Der Essener Abgeordnete Guido Reil, 2019 noch neben Jörg Meuthen Spitzenkandidat, schaffte es nicht auf einen Listenplatz und wird aus dem Europäischen Parlament ausscheiden.

Je umkämpfter ein Listenplatz, desto extremer sei die Rhetorik gewesen, sagt Emanuel Richter, Professor für Politikwissenschaften an der RWTH Aachen. Die Kandidaten hätten versucht, sich durch Radikalität zu profilieren. „Die Europapositionen der AfD und ihr Spitzenkandidat Maximilian Krah versprechen Rechtsradikalismus pur“, sagt Richter, der als TV-Experte vor Ort war. Einige Reden hätten die Grenzen der Verfassungsfeindlichkeit seines Erachtens überschritten. „Insofern ist das eine aus rechtlicher und erst recht politischer Erwägung bedenkliche Liste.“

Bonner Kandidat arbeitete mit Höcke zusammen

Sommer 2023, Vorhang auf in Magdeburg. Hans Neuhoff, Professor für Musikwissenschaften und Sprecher des AfD-Kreisverbands Bonn, kämpft sich auf Listenplatz acht. Dem „Bonner General-Anzeiger“ zufolge arbeitete er mit Björn Höcke bei der Erstellung der „Europa-Resolution“ zusammen, in der unter anderem die „Auflösung der EU und die Gründung einer neuen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft“ gefordert worden sei.

Hans Neuhoff spricht bei einer AfD-Veranstaltung.

Hans Neuhoff, Leiter der Programmkommission der AfD und Sprecher der AfD Bonn, soll an der „Europa-Resolution“ mitgearbeitet haben. Die Schrift fordert die „Auflösung der EU“.

In seiner Rede vor dem Parteitag fordert Neuhoff, die „unerträgliche Regenbogenpropaganda aus allen Institutionen“ zu verbannen und beschuldigt Erzieherinnen, „im staatlichen Auftrag“ Kinder in ihrer Geschlechtsidentität zu verunsichern, um die „traditionelle Familie zu zerstören und stattdessen grüne geschlechtslose Gesinnungsroboter heranzuzüchten“.

Emanuel Richter ordnet Neuhoff dem innerparteilichen Lager um Höcke zu. Der Bonner Politiker ließ eine Presseanfrage bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Kandidatin aus Rhein-Sieg mit Verbindungen zur „Identitären Bewegung“

Noch radikaler trat Irmhild Boßdorf in Magdeburg auf, stellvertretende Sprecherin der AfD Rhein-Sieg. Sie warf Brüssel und Berlin vor, das deutsche Volk „der Auflösung preiszugeben“, warnte vor einem „menschengemachten Bevölkerungswandel“, verlangte Pushbacks – das gewaltsame Zurückdrängen von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen – „egal, was der Europäische Gerichtshof sagt“. Drei Monate vor dem rechtsextremen Geheimtreffen in Potsdam forderte sie auf der Bühne in Magdeburg „Remigration, millionenfache Remigration“.

Boßdorfs Rede sei „völkisch, nationalistisch und systemfeindlich“ gewesen, sagt Politikwissenschaftler Richter. „Sie zählt definitiv zum rechtsextremen Flügel der AfD“. Die Deligierten wählten sie auf Listenplatz neun.

Irmhild Boßdorf spricht auf der AfD- Europawahlversammlung in der Messe Magdeburg.

Irmhild Boßdorf zeigt sich in Reden völkisch und systemfeindlich. Die AfD listet sie für die EU-Wahl auf Platz neun.

Seit langem pflegt Boßdorf Verbindungen zur rechtsextremen Identitären Bewegung (IB), die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Eigentlich hatte die AfD die IB auf eine Unvereinbarkeitsliste gesetzt. Von der damals angestrebten Mauer scheinen nur Ruinen übrig: Irmhild Boßdorfs Tochter Reinhild gilt als Kopf der IB-Nachfolgeorganisation „Lukreta“, der ausschließlich Frauen angehören. „Lukreta“ zählt zu der Strömung ‚Neue Rechte‘ innerhalb der rechtsextremen Szene.

„Eine Zusammenarbeit mit solchen Organisationen des politischen Vorfelds halte ich für sinnvoll“, schreibt Irmhild Boßdorf auf Anfrage zur Kooperation ihrer Partei mit diesen rechtsextremen Gruppierungen.

Die Unvereinbarkeitsliste besage lediglich, dass Mitglieder der dort aufgeführten Organisationen „in der Regel nicht Mitglied der AfD werden können“, schreibt Boßdorf. „Eine ‚Kontaktschuld‘ ist damit selbstverständlich nicht verbunden.“ „Lukreta“ sei zudem „unabhängig von der männerdominierten Identitären Bewegung“ entstanden, so Boßdorf. Der NRW-Verfassungsschutz führt „Lukreta“ jedoch in seinem jährlichen Bericht als Unterkategorie der IB.

Reinhild Boßdorf tritt regelmäßig gemeinsam mit ihrer Mutter politisch in Erscheinung. Bei Treffen von „Lukreta“, beim „europäischen Frauenkongress“, mitorganisiert von Maximilian Krah, oder bei einer Lesung des österreichischen Rechtsextremisten Martin Lichtmesz. Lichtmesz zählt laut dem NRW-Innenministerium zu den „führenden Köpfen der ‚Neuen Rechten‘“ im deutschsprachigen Raum, gemeinsam mit dem früheren österreichischen IB-Sprecher Martin Sellner schrieb er ein Buch. Ein Foto, das Irmhild Boßdorf im März bei Instagram hochlud, zeigt Mutter und Tochter Arm in Arm mit Lichtmesz.

Akt II: Der Weg nach Brüssel

Hinter den Kulissen in Brüssel birgt die Kandidatenliste Konfliktpotenzial. Die AfD gehört der Fraktion „Identität und Demokratie“ an, einem Zusammenschluss aus europäischen rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Parteien. Dort ist Spitzenkandidat Maximilian Krah umstritten: Während der letzten Legislaturperiode schloss die Fraktion Krah zweimal für je sechs Monate aus. Sein Verhältnis zur französischen Rechtspopulistin Marine Le Pen vom Rassemblement National gilt als äußerst schlecht, im letzten französischen Präsidentenwahlkampf unterstützte Krah Le Pens rechtsextremen Konkurrenten Éric Zemmour. Auch der italienischen Ministerpräsidentin und Postfaschistin Giorgia Meloni scheint die AfD zu radikal zu werden. „Rechtsaußen ist die AfD mit ihrer Systemfeindlichkeit gegenüber der EU isoliert“, sagt Richter. „Insofern wird es im Europäischen Parlament schwieriger werden für die AfD, ihre Fraktionszugehörigkeit zu wahren.“

Trotzdem schickt die Alternative für Deutschland, so scheint es, ihre extremsten Kräfte nach Europa. Spitzenkandidat Maximilian Krah äußert sich offen rechtsradikal, Petr Bystron argumentierte seinen Wechsel nach Europa mit den Worten: „Der Bundestag ist die bessere Bühne, aber aus Brüssel kommt das Gift, dort werden von Globalisten still und heimlich die Vorgaben gemacht“. Und der Leipziger Siegbert Droese, Listenplatz 11, machte 2016 damit Schlagzeilen, dass ein Auto seines Fuhrparks das Kennzeichen „AH 1818“ trug. Sowohl die Initialen „AH“ als auch „18“ sind als rechtsextreme Codes für „Adolf Hitler“ weithin bekannt.

Der NRW-Landesverband versuchte lange, sich als gemäßigter zu präsentieren als die Landesverbände im Osten. Doch mit Boßdorf kommt eine der radikalsten Kandidatinnen für Europa aus NRW. Die Partei ließ eine Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ unbeantwortet.

„Ich glaube, der Gedanke dabei ist: Wir können diese Radikalen nicht aus der Partei verdrängen. Insofern lassen wir sie sich im europäischen Parlament austoben, damit sie im Inland nicht so viel Schaden anrichten“, sagt Emanuel Richter. „Letztendlich ist die Kandidatenliste auch ein Zeichen der Geringschätzung der Europäischen Union.“ Am Erfolg dieser Strategie zweifelt der Politikwissenschaftler: Im Osten stehen Landtagswahlen an, die Bedeutung des Lagers um Höcke steigt. „Der Einfluss der radikalen Kräfte nimmt ganz offenkundig zu.“