Der Fachkräftemangel ist in Deutschland und NRW eine der größten Herausforderungen der Gegenwart. So kämpfen die Arbeitgeber um jeden Bewerber.
„Firmen greifen sich jeden Bewerber“Um Fachkräfte aus dem Ausland wird im Kölner Raum aggressiv geworben
Der neueste Versuch der Bundesregierung, ihren sogenannten Job-Turbo anzuschieben, wird aktuell heiß diskutiert: Fachkräfte aus dem Ausland sollen in den ersten drei Jahren ihres Aufenthalts in Deutschland Steuervergünstigungen bekommen. Kritiker sehen darin eine Benachteiligung einheimischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Befürworter eine gute und in anderen europäischen Ländern gängige Möglichkeit, Fachkräfte anzulocken. Denn gut ausgebildete Arbeitskräfte werden überall händeringend gesucht.
Der Fachkräftemangel sei „eine der großen Herausforderungen und drängendsten Fragen unserer Zeit“, heißt es im NRW-Arbeitsministerium. Er gefährde „das Wachstum unserer Wirtschaft und damit den Wohlstand aller“. Die Möglichkeit, ihn zu beheben, wenn geflüchtete Menschen schneller und besser in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden, hat zu einem ressortübergreifenden Schulterschluss geführt. So haben das Landes-Arbeits-, Wirtschafts-, Integrationsministerium und die Arbeitsagentur NRW im März eine „Initiative zur Beschleunigung von Arbeitsmarkt-Integration“ gestartet.
Das Credo: Jeder wird gebraucht
Man habe mit den 18 kommunalen Jobcentern als Teil der Fachkräfteoffensive eine „Vermittlungsoffensive“ vereinbart, teilt das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS) auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ mit. Für die Bekämpfung des Fachkräftemangels sei es „zwingend notwendig, das inländische Beschäftigungspotential besser auszuschöpfen“. Erwerbsfähige Menschen, die Bürgergeld beziehen, darunter „Teile der hier lebenden, geflüchteten Personen“, sollen beruflich besser integriert werden. „Jeder wird gebraucht, jeder soll ein Angebot erhalten“, heißt es aus dem Arbeitsministerium, und: „Geflüchtete tragen insgesamt maßgeblich dazu bei, offene Stellen in den Unternehmen zu besetzen.“
Demnach arbeiteten aktuell 164.680 Beschäftigte aus Asylherkunftsländern und 39.530 Beschäftigte aus der Ukraine in NRW, „Tendenz steigend“. Auch ein Sprecher der Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit teilte auf Anfrage mit: „Der Job-Turbo wirkt“. So hätten im Juni in NRW 1118 Ukrainerinnen und Ukrainer aus der Arbeitslosigkeit heraus eine Arbeit aufgenommen. Das seien 91,8 Prozent mehr gewesen als vor einem Jahr, als der Job-Turbo noch nicht lief. Zudem hätten im Juni 3671 Personen aus Asylherkunftsländern aus der Arbeitslosigkeit heraus eine Arbeit aufgenommen. „Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation konnte ein Plus von 11,6 Prozent erreicht werden“, so der Sprecher der Regionaldirektion.
Willkommenslotsen gehen die Bewerber mit Fluchthintergrund aus
Zum Job-Turbo der Bundesregierung gehören auch die „Willkommenslotsen“, rund 200 gibt es deutschlandweit. Das Programm „Passgenaue Besetzung und Willkommenslotsen“ wird vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert, Unternehmen soll bei der Besetzung offener Ausbildungs- und Arbeitsstellen mit Geflüchteten und neuerdings auch mit Bewerbern aus Drittstaaten geholfen werden. Beatrix Schulte-Uebbing ist Willkommenslotsin, sie arbeitet seit 2016 im Ausbildungszentrum des Berufsförderungswerks der Bauindustrie NRW in Kerpen und hat unter anderem Amir Rasoli auf seinem Weg zum Schul- und Ausbildungsabschluss begleitet.
Aktuell gehen Schulte-Uebbing allerdings die Bewerber mit Fluchthintergrund aus. Aus der Ukraine sind hauptsächlich Frauen gekommen, die wollen keine Jobs in der Bauindustrie. Und jene, die vor fünf bis zehn Jahren noch gern auf den Bau gegangen sind, bekommen heute andere Möglichkeiten. Auf den Job-Messen werde von unterschiedlichsten Unternehmen aggressiv um Arbeitskräfte und Bewerber für Ausbildungsplätze geworben, egal ob Flüchtling oder nicht, sagt Schulte-Uebbing: „Die Firmen stehen Schlange und greifen sich jeden Bewerber.“
In der Bauindustrie setzt man nun ähnlich wie in den Pflegeberufen auf ein gezieltes Anwerben geeigneter Fach- und Arbeitskräfte im Ausland. Auf junge Menschen, die in ihrem Heimatland schon eine Ausbildung absolviert, zumindest aber einen guten Schulabschluss gemacht haben. Das neue Fachkräftezuwanderungsgesetz schafft die rechtlichen Möglichkeiten. „Das wird die Zukunft sein, vor allem in der Bauindustrie“, sagt Schulte-Uebbing, die aktuell vor allem junge Männer aus Kamerun in die Unternehmen vermittelt. Eine wirkliche Beschleunigung der Verfahren zur Einreise ausländischer Fachkräfte kann Schulte-Uebbing allerdings nur bedingt feststellen, die Praxis hinke der Theorie hinterher. „Wir warten monatelang auf die Bearbeitung unserer Anträge in der Bezirksregierung“, sagt die Kerpener Willkommenslotsin. Der Grund: Zu wenige Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter.