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Traum vom MeisterbriefKabul, Kos, Kerpen – Der Weg eines Flüchtlings zur Fachkraft

Lesezeit 10 Minuten
Der junge Mann ist im Halbporträt zu sehen. Er trägt einen Kapuzenpullover und lächelt in die Kamera.

Erst Flüchtling, jetzt Fachkraft: Amir Rasoli will noch das Abitur nachholen und seinen Meister machen.

Amir Rasoli kam mit der großen Flüchtlingswelle 2015 nach Deutschland. Eine unmenschliche Tour lag hinter ihm. Jetzt blickt er in die Zukunft.

Amir Rasoli wollte eigentlich nur von seiner Arbeit als Rohrleitungsbauer erzählen. Davon, wie er es als Flüchtling aus Afghanistan geschafft hat, in Kerpen Deutsch zu lernen, seinen Realschulabschluss zu machen und eine Ausbildung abzuschließen. Vielleicht noch von seinem Traum, den Meister zu machen und irgendwann auch das Abitur zu schaffen.

Aber dann erzählt Amir die ganze Geschichte. Sie handelt vom großen Flüchtlingsstrom 2015, der ihn über den Iran, die Türkei, Griechenland und schließlich über die Balkanroute nach Kerpen spülte. Amir berichtet von seiner Kindheit am Hindukusch. Von den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und den Taliban, die ihn und seine Familie von dort vertrieben haben. Er erzählt, wie sein Vater ihn als 14-Jährigen in die Hände von Schleusern gab, um ihm eine Zukunft zu erschaffen. Und von einer Nacht, in der er auf einem Schlauchboot in der Ägäis dem Tod ins Auge sah.

Ich heiße Amir Rasoli, ich bin 23 Jahre alt und komme aus Bamiyan, einer kleinen Stadt in den Bergen im Zentrum Afghanistans, etwa 230 Kilometer nordwestlich von Kabul. Ich bin dort zur Schule gegangen und habe meinen Eltern mit den Tieren geholfen. Wir hatten einen kleinen Hof mit Kühen, Schafen und Hühnern. In Bamiyan ist es wichtig, Tiere zu haben, damit man sich ernähren kann. Leider herrschte bei uns Krieg, wir waren mitten in dem Konflikt zwischen der alten Regierung und den Taliban.

Amir Rasoli stammt aus Bamiyan, einer Stadt in den Bergen im Zentrum Afghanistans.

Amir Rasoli stammt aus Bamiyan, einer Stadt in den Bergen im Zentrum Afghanistans.

Amirs Eltern verkauften 2014 ihre Tiere, um nach Kabul zu ziehen und ihre drei Kinder zu beschützen. Afghanistans Hauptstadt wurde von der damaligen Regierung kontrolliert und galt als sicher. Amir war 14 Jahre alt, seine Schwester und sein Bruder waren Kleinkinder. Der Älteste lernte bei einem Schneider das Nähen von Frauenkleidern und verdiente gut. Doch sein Vater hatte andere Pläne für ihn.

Er hat zu mir gesagt: Wir sind alt, wir bleiben hier. Aber du bist jung, du hast deine Zukunft noch vor dir, du musst von hier abhauen. Er hat mir mit den Schleusern geholfen. Du gibst den Leuten Geld, die schmeißen dich in ein Auto rein, wie Vieh. So verhandeln die auch. Du bekommst Essen und Wasser, bis das Ziel erreicht ist, dann werfen sie dich wieder raus. Es war furchtbar. Aber ich musste das machen, ich musste dieses Risiko eingehen. Aus Afghanistan weg zu gehen, war die einzige Möglichkeit, meine Zukunft zu sichern. Wo ich am Ende ankommen würde, hatte ich nicht im Kopf. Ich wusste nichts von Deutschland. Ich musste einfach weg und mich retten.

Zwischenstation im Iran

Nach zwei Tagen Fahrt wird Amir im Iran an einem Flüchtlingscamp der Vereinten Nationen ausgeladen. Im Oktober 2015, mehr als ein Jahr nachdem er in Kabul in einen Transporter verfrachtet wurde, kommt er mit nichts als seinem Überlebenswillen in Kerpen an. Das Geld ist alle, sein ohnehin spärliches Reisegepäck im Meer verloren gegangen. Amirs Eltern wissen nicht, ob ihr inzwischen 15 Jahre alter Sohn noch lebt. Und Amir hat keine Ahnung, wie es seiner Familie in Kabul geht. Erst einige Monate später wird er zum ersten Mal mit ihnen telefonieren.

Im Camp im Iran bekamen wir etwas Unterstützung. Aber die Leute hauen da immer wieder ab. Die Iraner sprechen Persisch und wir Dari, wir verstehen uns. Wenn du als Afghane in den Iran kommst und einen guten Beruf oder zumindest Talent hast, kannst du arbeiten – aber illegal im Keller, du bekommst keine Papiere. Ich war sieben oder acht Monate dort, habe mit dem Nähen Geld verdient und Freunde gefunden. Dann sind wir weiter in die Türkei, wieder mit der Hilfe von Schleusern. Dort war es dann komplizierter, eine andere Sprache, alles war teurer. Aber ich bin trotzdem durchgekommen.

Amir ist unverhofft mitten in die massiven Fluchtbewegungen geraten, die heute unter dem Label „Flüchtlingskrise 2015“ erinnert wird und in Deutschland zunächst eine Welle der Solidarität hervorgerufen hat, inklusive des inzwischen legendären Satzes der damaligen CDU-Kanzlerin Angela Merkel: „Wir schaffen das.“ Heute ist nicht viel übrig vom Schaffen-Wollen, die positive Willkommens-Stimmung im Land hat sich in einen politischen Rechtsruck gewandelt. Viele Menschen haben Angst, ein Zuviel an Migration könnte sie ihren Wohlstand und die Sicherheit im Land kosten. Aber Unternehmen auf der Suche nach Arbeitskräften wünschen sich mehr Flüchtlinge wie Amir.

Mindestens 63.000 Menschen sind auf der Suche nach einem besseren Leben gestorben

Ich habe schließlich ein Boot gefunden, in dem wir mit elf Leuten von der Türkei nach Griechenland fahren sollten. Das hat 3000 Dollar gekostet. Nachts um zwölf Uhr haben die Schleuser das Schlauchboot aufgepumpt und uns kurz beigebracht, wie es funktioniert. Sie haben übers Meer auf die Lichter gezeigt und gesagt: „Da drüben ist Griechenland, in einer halben Stunde seid ihr da.“ Aber die haben gelogen. Griechenland war weit weg. Und es war kalt und windig. Schnell ist Wasser in unser Boot gekommen, dann ist der Elektro-Motor ausgefallen.

Die Internationale Organisation für Migration (IOM) dokumentiert seit 2014 Todes- und Vermisstenfälle im Zusammenhang mit Migration. Demnach sind in den zehn Jahren von 2014 bis 2023 mindestens 63.000 Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben gestorben, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Mehr als die Hälfte fand den Tod durch Ertrinken. Für 2015 hat die IOM 6750 Tote und Vermisste gezählt, 2016 waren es 8084. Sicherer sind die Migrationswege seither nicht geworden, die Bilanz für 2023 übertrifft mit 8565 Toten und Vermissten das bisherige Rekordjahr 2016.

Zurückgelassene Rettungswesten liegen im Oktober 2015 am Strand von Kos.

Zurückgelassene Rettungswesten liegen im Oktober 2015 am Strand von Kos.

Wir hatten vier Ruder dabei, die waren unsere einzige Chance, uns zu retten. Wir sind die ganze Nacht gerudert. Die Leute im Boot bekamen Angst, sie ruderten immer schneller. Dadurch sind die Ruder kaputt gegangen oder ins Wasser gefallen, irgendwann waren alle weg. Wir saßen mit elf Männern in dem Boot und dachten, wir wären tot. Wir haben uns auf dem Wasser sterben sehen. Es vergingen Stunden, wir hatten keine Hoffnung mehr. Einige waren am Weinen, andere am Beten. Ich war in meinem Inneren überzeugt, dass ich leben werde, dass ich nicht so bald sterbe. Aber auf dem Boot habe auch ich fast meine Hoffnung verloren. Ich kann diese Momente nicht beschreiben, es war furchtbar. Afghanistan ist ein trockenes, bergiges Land, ich habe nie Schwimmen gelernt. Das Meer war unheimlich.

Der zweijährige Alan Kurdi wurde zum Symbol der Katastrophe

Der Geschichtsprofessor Ulrich Herbert und der Historiker Jakob Schönhagen schreiben in einem Artikel für die Bundeszentrale für politische Bildung („Die ‚Flüchtlingskrise‘ 2015 im historischen Kontext“) von zwei Ereignissen, die im Sommer 2015 zu „Symbolen der katastrophalen Lage der Flüchtlinge auf den Fluchtrouten nach Westeuropa“ geworden seien und „weltweit eine Welle der Betroffenheit und Empörung“ entfacht hätten: Zum einen wurde am 28. August an der Autobahn 4 im österreichischen Burgenland ein Lastwagen mit 71 Toten entdeckt. Es waren Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak, von den Schleppern verlassen und im Wagen erstickt. Zum anderen wurde am 2. September das Foto eines leblos am Strand liegenden Jungens verbreitet. Der zweijährige Alan Kurdi aus Syrien war bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland wie seine Mutter und sein fünf Jahre alter Bruder ertrunken.

Irgendwann ist etwa einen Kilometer von uns entfernt ein großes Schiff vorbeigefahren. Die Leute im Boot haben die Lichter ihrer Handys angemacht und gewinkt. Aber das Schiff ist weitergefahren, die haben uns nicht gesehen. Etwas später hat uns ein Patrouillenboot der griechischen Marine gefunden. Die Leute hatten Angst, dass wir zurückgebracht werden. Aber wir kamen auf die Insel Kos. Da haben wir uns in einem Flüchtlingslager angemeldet, wir haben Essen und Plätze in Zelten bekommen. Ich hatte nur noch ein bisschen Geld in einer Plastiktüte unter meiner Kleidung. Alles andere hatten wir ins Meer geworfen, damit das Boot nicht untergeht.

Für Amir ging es von Kos weiter nach Athen und dann im Strom der Flüchtlinge in Bussen über die Balkanroute bis nach Kerpen in eine Notunterkunft in der Kaserne. Zusammen mit 19 anderen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen kam er von dort ins Ausbildungszentrum der Bauindustrie NRW. Die Einrichtung hatte sich entschieden, in der Krise Hilfe anzubieten. Nicht ganz uneigennützig, da man auf künftige Arbeits-, bestenfalls Fachkräfte hoffte.

Ich hatte überhaupt nicht kapiert, wo ich bin. Jemand hatte ein Handy, da musste ich erstmal auf einer Karte gucken, wo Deutschland liegt. Manche von den anderen wollten weiter. Aber wir haben direkt einen Deutschkurs angeboten bekommen, das fand ich gut. Dann war ich erstmal sechs Monate damit beschäftigt, die Sprache zu lernen. Am Anfang war es schwer. Aber langsam, langsam, langsam ging es voran. Dann bin ich in die achte Klasse der Hauptschule gekommen. Erst in die Förderklasse, weil ich die Sprache noch nicht so gut konnte. Da war ich sauer. Ich habe gefragt, warum ich nicht mit den normalen Leuten in die Schule gehen kann. Ich war sehr interessiert. In meinem Kopf war: Jetzt ist die Zeit, um zu lernen, ich muss meine Zukunft vorbereiten.

Große Unterschiede in der Schulbildun

Auch in Afghanistan hatte Amir bereits eine Schule besucht. Aber die Unterschiede seien groß, sagt er.

Dort musstest du nebenher immer auch arbeiten, du hattest gar keine Chance, Hausaufgaben zu erledigen. Die Lehrer waren auch ganz anders. In Afghanistan musstest du einen Text aus einem Buch zehnmal abschreiben, dann konntest du nach Hause gehen. In Deutschland habe ich viel mehr gelernt. Nur Mathe konnte ich zum Glück vorher schon ganz gut, da hat meine Familie in Afghanistan mich immer unterstützt.

Nach dem Realschulabschluss schnupperte Amir in verschiedene Berufe hinein: Lagerarbeiter, Elektriker, Maler oder Tischler gefiel ihm nicht. Aber beim Rohrleitungsbau fühlte er sich sofort wohl – und absolvierte bei der Dürener Baufirma Lück und Wahlen die Ausbildung zum Tiefbaufacharbeiter mit Schwerpunkt Rohrleitungsbau.

Die Leute können nicht ohne Gas und Wasser leben, das ist wichtig, das macht mir Spaß. Mein Onkel hatte in Kabul ein privates Wasserwerk. Er zieht Wasser aus einem Brunnen in der Erde, leitet es in einen hoch gelegenen Tank und verteilt es auf rund 300 Wohnungen. Als ich klein war, bin ich immer mal mit ihm unterwegs gewesen. Gräben auszuheben, Rohre zu verlegen und die Leute mit Wasser zu versorgen, das war schön. Dann klopfst du an die Türen, liest die Zähler ab und sammelst das Geld ein. Als ich den Job als Rohrleitungsbauer hier kennengelernt habe, dachte ich schon: Wenn ich irgendwann wieder zurück nach Afghanistan gehe, kann ich den Beruf dort weiterentwickeln und die Leute mit Gas und Wasser versorgen. Natürlich träume ich davon. Das ist mein Heimatland, da sind meine Eltern und Geschwister.

Nächstes Ziel: die Meisterprüfung

Seit die Taliban im August 2021 in Afghanistan die Macht übernommen haben, sind die Chancen für eine Rückkehr gesunken.

Die Situation für meine Familie in Kabul ist komplett schlecht geworden. Vorher brauchten sie keine Hilfe. Jetzt ist es furchtbar, es gibt keine Jobs, kein Geld. Ich unterstütze meine Familie ein bisschen, damit die auch leben können. Immerhin stehen die Taliban unter internationaler Beobachtung und lassen die Leute in Ruhe. Mein Vater hat einen kleinen Kiosk und mein Bruder geht zur Schule. Meine Schwester muss zu Hause bleiben, bei den Taliban dürfen die Mädchen nur bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen.

In Amir Rasolis Heimat regieren die Taliban mit harter Hand.

In Amir Rasolis Heimat regieren die Taliban mit harter Hand.

Amir möchte als nächstes seinen Meister im Rohrleitungsbau machen. Und er ist auf der Suche nach einer Abendschule, um auch noch das Abitur zu machen.

Ich bin zufrieden hier in Deutschland. Ich habe Arbeit, eine Wohnung, ein Auto. Natürlich bin ich zufrieden. Aber ich habe Zeit. Ich bin jung und aktiv, warum soll ich nicht nach vorn denken? Ich will versuchen, noch weiterzukommen.