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Geflüchtete in NRWWie viele Menschen suchen Schutz bei uns – und wo kommen sie her?

Lesezeit 5 Minuten
Geflüchtete aus der Ukraine stehen mit ihrem Gepäck vor den Gebäuden eines Flüchtlingsheims in Köln-Worringen.

Seit der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist, sind Hunderttausende Menschen von dort nach Deutschland gekommen, um hierzulande Schutz zu suchen.

Viele Menschen fliehen vor Krieg und Katastrophen nach Deutschland. So steht NRW im Vergleich zu den anderen Bundesländern.

„Es gab ständig Fliegeralarm, der Flughafen wurde bombardiert, das Internet ist zusammengebrochen. Es herrschten Angst und Panik“, erinnert sich Bogdan Tereschenk an die letzten Tage in seiner Heimatstadt Dnipro. Der 16-jährige Ukrainer lebt seit einigen Monaten in Sankt Augustin.

So wie mehr als 200.000 weitere Menschen ist Bogdan vor dem Krieg in der Ukraine geflohen und in Nordrhein-Westfalen gelandet. Doch nicht nur aus der Ukraine kommen Flüchtlinge nach NRW. In Russland machen sich junge Männer auf den Weg, um einer Einberufung zu entgehen, in Syrien herrscht nach wie vor Bürgerkrieg und auch viele Türken sind wohl wieder auf dem Weg, um der Inflation, die mehr als 80 Prozent beträgt, zu entfliehen.

Zahl der Flüchtlinge weltweit deutlich gestiegen

Noch nie waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie zurzeit, schreibt das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR): weltweit rund 103 Millionen. Die Zahl umfasst Flüchtlinge, Asylsuchende, Binnenvertriebene und andere schutzbedürftige Menschen.

Als Flüchtling im juristischen Sinne gelten nur Personen, die sich nach der Genfer Flüchtlingskonvention aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Ethnie, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb des Landes befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Auf Menschen, die vor Krieg oder Kriegsfolgen fliehen, bezieht sich die Genfer Flüchtlingskonvention nicht explizit. Das UNHCR vertritt jedoch den Standpunkt, auch diese Menschen als Flüchtlinge anzusehen.

Mehr als eine Million Menschen auf der Flucht sind 2022 nach Deutschland gekommen, der Großteil von ihnen aus der Ukraine. Ihre genaue Zahl kann nur geschätzt werden, da sie hierzulande kein Asylverfahren durchlaufen müssen, oft bei Verwandten oder Bekannten unterkommen und sich nicht immer registrieren lassen. In Nordrhein-Westfalen sind etwas mehr als 2000 Geflüchtete aus der Ukraine in Landeseinrichtungen untergebracht, Schätzungen gehen insgesamt jedoch von mehr als 200.000 Ukrainerinnen und Ukrainern aus, die in NRW untergekommen sind.

40 Prozent mehr Asylanträge als vor einem Jahr

Auch aus anderen Ländern haben in diesem Jahr wieder mehr Menschen Schutz in Deutschland gesucht, verglichen mit Ukrainerinnen und Ukrainern sind das aber nicht viele: Bis Ende Oktober gingen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) rund 160.000 Erstanträge auf Asyl ein – dennoch fast 40 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die meisten Antragssteller kamen aus Syrien, gefolgt von Menschen aus Afghanistan und der Türkei. Mehr als 30.000 Anträge wurden in Nordrhein-Westfalen gestellt.

Rund ein Fünftel aller Geflüchteten, die nach Deutschland kommen, muss das Bundesland Nordrhein-Westfalen aufnehmen. Das legt der sogenannte „Königsteiner Schlüssel“ fest, der die Verteilung von Asylsuchenden auf die verschiedenen Bundesländer regelt. Berücksichtigt werden dafür unter anderem die Bevölkerungszahl sowie die Steuereinnahmen eines Landes.

Wo kommen Geflüchtete in NRW unter?

Wenn Geflüchtete in Nordrhein-Westfalen ankommen, durchlaufen sie ein dreistufiges Verfahren. Zunächst müssen sie sich persönlich in der Landeserstaufnahmeeinrichtung in Bochum (LEA) melden und werden registriert. Nach wenigen Stunden werden sie in eine Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) gebracht, wo sie medizinisch untersucht werden und ihren Antrag stellen. Nach etwa einer Woche werden Geflüchtete von der Erstaufnahmeeinrichtung in eine Zentrale Unterbringungseinrichtung (ZUE) gebracht, bis sie nach Erfüllung der sogenannten Wohnsitzverpflichtung einer Stadt oder Gemeinde in NRW zugewiesen werden.

Dass zuletzt wieder mehr Menschen Schutz in Nordrhein-Westfalen gesucht haben, zeigt auch der Anstieg bei den pro Tag gestellten Asylanträge. Während sich deren Zahl in den vergangenen Jahren meist im ein- bis zweistelligen Bereich bewegte – ein markanter Ausreißer ist nur im Frühjahr 2022 zu erkennen, als Geflüchtete aus der Ukraine zeitweise in derselben Statistik erfasst wurden –, gingen zuletzt regelmäßig mehrere hundert Anträge pro Tag ein.

Angesichts des zu erwartenden weiteren Anstiegs will das Land NRW nun kurzfristig Kapazitäten ausbauen und die Zahl der vorhandenen Plätze für die Erstaufnahme von Geflüchteten erhöhen – von rund 26.000 im November 2022 auf 34.000. Im Nachtragshaushalt des Landes wurden dafür zusätzlich 570 Millionen Euro bereitgestellt.

Im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat Ministerpräsident Hendrik Wüst von der Bundesregierung jüngst eine dauerhafte Unterstützung bei der Unterbringung von Flüchtlingen aus der Ukraine gefordert.

Je nach Nationalität werden unterschiedlich viele Schutzsuchende in den nordrhein-westfälischen Städten und Gemeinden untergebracht. Falls bereits Verwandte einer geflüchteten Person in Deutschland wohnen, wird diese mit erhöhter Wahrscheinlichkeit einer Erstaufnahmeeinrichtung im selben Bundesland zugewiesen. Auch deswegen lassen sich auch regionale Unterschiede erkennen.

Zum Stichtag 31. Dezember 2021 lebten beispielsweise vor allem in den neuen Bundesländern Schutzsuchende aus Russland, während Personen aus dem Kosovo eher in Baden-Württemberg sowie in Nordrhein-Westfalen unterkamen. Auch bei Schutzsuchenden aus dem Iran war eine Häufung in Nordrhein-Westfalen erkennbar.

Wie sich die Zahlen im Jahr 2022 verändert haben, wird derzeit noch untersucht und ausgewertet. Dass sie sich verändert haben, steht allerdings jetzt schon fest: „Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat zu einer der größten Flüchtlingsbewegungen Europas seit Mitte des 20. Jahrhunderts geführt“, wie Katharina Spieß vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) weiß.

Um die Fluchtbewegungen besser zu verstehen, gibt es seit Kurzem ein Forschungsprojekt, mit dem Daten zu den Menschen und ihren Fluchtumständen erhoben werden. Denn: „Erkenntnisse aus den Analysen früher Fluchtbewegungen lassen sich nur teilweise auf die aktuelle Situation übertragen“, erklärt Spieß.

Unausgewogenes Geschlechterverhältnis unter Schutzsuchenden in NRW

Auch die Familienbeziehungen der Geflüchteten werden in dem Forschungsprojekt des BiB unter die Lupe genommen, vor allem mit Blick auf die große Zahl von Frauen, Kindern und Jugendlichen, die seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine nach Deutschland gekommen sind. Sie dürften das bisherige Geschlechterverhältnis der Schutzsuchenden hierzulande deutlich verschieben.

Bislang gab es unter Schutzsuchenden in Nordrhein-Westfalen einen deutlichen Männerüberschuss – das Verhältnis lag Ende vergangenen Jahres bei 60 zu 40 Prozent. Vor allem unter jungen Erwachsenen war das Verhältnis unausgewogen, in einigen Altersgruppen lebten mehr als doppelt so viele Männer wie Frauen in Deutschland.

Bis Ende September konnten im Rahmen des BiB-Forschungsprojekts bereits mehr als 10.000 Ukrainerinnen und Ukrainer befragt werden. Mit ersten Ergebnissen ist Anfang 2023 zu rechnen.