Ärzte und medizinisches Personal erleben immer öfter Gewalt und Respektlosigkeit. Dem Orthopäden Rolf-Peter Kuchem wurde ein Finger gebrochen.
Angespuckt, geschlagenGewalt in NRW-Arztpraxen nimmt zu – Ein Orthopäde erzählt seine Geschichte
Drei Minuten vor Ende der Sprechstunde hört Rolf-Peter Kuchem ein wildes Geschrei und Gepolter am Empfang seiner Praxis. Der Orthopäde bricht die Untersuchung eines Patienten ab, verlässt das Behandlungszimmer und sieht dann, wie ein Mann eine der Praxis-Mitarbeiterinnen anbrüllt und schubst.
Als der 64-Jährige dazwischen gehen will, stürmt der Randalierer auf ihn zu. Er holt mit dem rechten Arm weit aus, als ob er mit voller Wucht zuschlagen will. Kuchem schafft es zwar noch, den Angreifer wegzuschubsen. Der aber greift dabei die linke Hand des Mediziners und verdreht sie so, dass der Daumen bricht und einige Bänder reißen. Als der Mann weiterprügeln will, wird er von zwei Männern festgehalten und zu Boden gebracht. Die beiden sind zufällig auch als Patienten in die Praxis in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Hückelhoven gekommen. Sie fixieren den Randalierer, bis die Polizei da ist.
Die Sprechstundenhilfe geschubst und den Arzt geschlagen
„Wenn die zwei nicht dagewesen wären, wer weiß, was passiert wäre“, sagt Kuchem. Der Vorfall, geschehen vor etwa vier Jahren, beschäftigt ihn heute noch. Nach dem Strafprozess gegen den Täter kommt jetzt die zivilrechtliche Auseinandersetzung. Trotz Verurteilung im Strafprozess und zahlreicher Zeugen habe der Mann vor dem Zivilrichter anfangs wieder bestritten, den Arzt angegriffen zu haben. Und im Parkhaus habe er sich dessen Anwalt bedrohlich in den Weg gestellt.
„Das hört man dann und kann es nicht glauben”, sagt Kuchem und schüttelt den Kopf. Die Folgen des Angriffs spürt er täglich. „Bei jedem Griff, wenn ich beispielsweise einen Beckenstand bei einem Patienten kontrollieren oder nur ein Bein anheben will, schmerzt es und ich kann die Hand immer noch nicht voll belasten.“
Gewalttätiger Patient wollte nicht auf Rezept warten
Und warum das Ganze? Der etwa 40-jährige, türkischstämmige Randalierer brauchte ein Medikament. Das sollte er auch bekommen. Die Sprechstundenhilfe hatte ihm lediglich gesagt, er müsse sich einen Moment gedulden. Der Doktor, aktuell noch in einer Behandlung, müsse das Rezept schließlich unterschreiben. Daraufhin begann der Mann, der nicht warten wollte, mit seinen Pöbeleien.
In nordrhein-westfälischen Praxen eskaliert die Gewalt – physisch und verbal. Fast jeder zweite Arzt und Medizinische Fachangestellte wurde in den vergangenen fünf Jahren mindestens einmal von einem Patienten körperlich angegriffen oder bedroht. Das sind Ergebnisse einer deutschlandweiten Umfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). 80 Prozent sind demnach beschimpft und beleidigt worden – häufig mehrfach. Von den Betroffenen haben 14 Prozent aufgrund der Vorkommnisse die Polizei eingeschaltet oder Anzeige erstattet. Und ein Drittel der Praxen hat aufgrund der zugenommenen Gewalt sogar Vorkehrungen getroffen – zum Beispiel ein Notrufsystem installieren lassen, potenziell gefährliche Gegenstände wie Vasen, Scheren oder Brieföffner entfernt, durch Umbauten Fluchtwege geschaffen oder das Personal entsprechend geschult.
Verrohrung im Umgang mit medizinischem Personal
Die Bundesärztekammer beklagt „eine Verrohung im Umgang mit medizinischem Personal“. Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, spricht von verbaler und physischer Gewalt: „Offene Aggression und ein extrem forderndes Verhalten haben deutlich zugenommen.“ Die raue Situation trage „zweifellos“ zum Fachkräftemangel in den Praxen bei, kommentierte der Verband der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte.
„Dass sich Patienten nicht benehmen können und eine schräge Einschätzung der eigenen Behandlungsdringlichkeit haben, ist ein Nationen-übergreifendes Phänomen“, so Gassen. Er habe selbst schon einen Patienten gehabt, der eine Tür kaputtgetreten habe. Das sei zum Glück nicht die Regel. „Die Probleme gehen auf eine kleine, leider aber größer werdende Klientel zurück“, weiß der Orthopäde, der in einer Düsseldorfer Gemeinschaftspraxis praktiziert.
Zahl der Angriffe und Pöbeleien ist drastisch gestiegen
Was sich zudem häufe: „Da ist einer krank, und sechs Leute kommen als Begleitung mit in die Praxis oder die Notaufnahme und machen Radau.“ Gelegentlich geht es dabei mittlerweile schon ums Überleben. Im September sind sechs Mitarbeitende des Elisabeth-Krankenhauses Essen von Angehörigen eines Patienten angegriffen und verletzt worden, eine 23-Jährige schwer. Ein paar Tage zuvor hatten zwei Männer einige Mitarbeitende des Vivantes Humboldt-Klinikums in Berlin mit Messern angegriffen, weil sie für eine Behandlung warten mussten. Kampfzone Arztzimmer: Auch im Großraum bieten einige Krankenhäuser den Mitarbeitenden deshalb schon Schulungen an, wie sie im Fall eines Angriffs reagieren und sich wehren können.
Nach Angaben des Landeskriminalamtes ist die Zahl der Gewalttaten in NRW-Krankenhäusern seit 2017 um mehr als 34 Prozent gestiegen. Im vergangenen Jahr summierten sich die Fälle auf 1705 – also vier bis fünf pro Tag. Ein Trend, der sich – zumindest in Teilen – auch in der Region zeigt: So verzeichnete das Polizeipräsidium Köln/Leverkusen von 2022 bis 2023 einen Anstieg um rund 17 Prozent bei der Zahl der Gewaltdelikte in Krankenhäusern. Während im Jahr 2022 noch 134 Übergriffe gemeldet wurden, waren es im vergangenen Jahr bereits 157.
„Die Zünschnur ist extrem kurz geworden“
„Die Zündschnur, die einige Patienten haben, ist extrem kurz geworden“, bestätigt Kuchem. Der Ton sei dann „harsch, renitent und unflätig, immer häufiger auch beleidigend“. Gelegentlich werde den Mitarbeiterinnen beispielsweise sogar unterstellt, sie würden lügen, wenn sie etwa sagen, dass Laborbefunde noch nicht da sind.
Wegen des Angriffs in seiner Praxis und der immer aggressiver werdenden Atmosphäre hätten drei bewährte Helferinnen gekündigt. „Sie wollten sich diesem Druck einfach nicht mehr aussetzen, dafür muss man Verständnis haben“, so Kuchem. Er selbst schaut jetzt immer in den Computer, bevor er das Behandlungszimmer wechselt. Damit er wisse, wer da genau wartet. „Das habe ich früher nie getan, jetzt kommt der Gedanke, wer könnte da sitzen?“ Kuchem bekennt: „Es ist auch die Unbefangenheit, die ich verloren habe.“
Ärzte fordern höhere Strafen für Randalierer
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) spricht in diesem Zusammenhang von einem um sich greifenden Egoismus, einer „Ich-ich-ich-und-sofort“-Mentalität. Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hält Angriffe auf die Mitarbeiter des Gesundheitswesens für einen Angrifft auf das Gemeinwesen: „Ein solches Verhalten geht an die Substanz einer humanen Gesellschaft.“
Die Ärzteschaft fordert mittlerweile eine Verschärfung des Strafrechts. Mindestens sechs Monate Haft müsse es für körperliche Attacken auf Ärzte oder Pflegepersonal geben. Der ehemalige Justizminister Marco Buschmann (FDP) wollte mit einer Änderung des Strafrechts unter anderem Rettungskräfte besser vor Anfeindungen und Gewalt schützen. Die Anpassung müsse auch ohne Buschmann beschlossen und auf die Arztpraxen ausgeweitet werden, fordert auch die Kassenärztliche Vereinigung.
Die Angst, der Täter könnte wiederkommen
Die Bundesärztekammer unterstützt das Vorhaben. Die Straftaten müssten aber nicht nur schärfer geahndet, sondern auch effektiv verfolgt und aufgeklärt werden, fordert die Kammer in einer Stellungnahme zum Referentenentwurf des Gesetzes. „Wir brauchen dringend Aufklärungskampagnen, die deutlich machen, dass diese Menschen Retter und Helfer sind“, heißt es dort.
Hans-Peter Kuchem schaut sich abends manchmal um, wenn er seine Praxis verlässt und alleine zum Parkplatz geht. Dann beschleicht ihn das Gefühl, der Angreifer von damals könnte ihm womöglich auflauern. Seit der Körperverletzung habe er aber auch viel Zuspruch erhalten, sagt der Mediziner.
„Vor allem meine türkischen Patienten haben sich tief betroffen über das Verhalten ihres Landmanns gezeigt.“ Einer habe sogar angeboten, die Angelegenheit von einem türkischen Friedensrichter regeln zu lassen. Der könne eine angemessene Strafe für den Täter festlegen.
Angreifer hat sich nie entschuldigt
Kuchem hat das Angebot zur illegalen türkischen Parallel-Justiz abgelehnt. Und im zivilrechtlichen Verfahren geht es ihm nicht um Geld. „Es geht um Glaubwürdigkeit, dass ich mich nicht raushalten darf, dass ich mich für meine eigenen Vorstellungen von Moral einsetzten muss.“
In einer Zeit, in der die Gesellschaft immer respektloser werde, in der wie im Kreis Höxter die Radmuttern von Rettungswagen gelockert würden, in der medizinisches Personal angespuckt und geschlagen werde, müsse man zeigen, dass so ein Verhalten nicht ohne Konsequenzen bleibt. Kuchem sagt das aus voller Überzeugung. Schließlich ergänzt er noch: Der Täter habe sich bis zum heutigen Tag nicht bei ihm entschuldigt.