Beim Thema Inklusion gibt es in NRW viel zu tun. Dennis Sonne, Landtagsabgeordneter der Grünen, weiß, wovon er spricht – er ist querschnittsgelähmt.
Grünen-Politiker im Rollstuhl„Behinderte Menschen werden in Werkstätten häufig als Billig-Jobber ausgebeutet“
An der Tür des Landtagsbüros von Dennis Sonne hängt ein selbstgemaltes Schild. „Unbeatable together“ steht darauf. Das heißt auf Deutsch „Zusammen unschlagbar“ – eine Botschaft, deren Vermittlung für den Grünen zu einem zentralen Ziel seiner Politik geworden ist. Sonne ist nach einem Sturz querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl. Bei den Grünen ist der 40-Jährige als Sprecher für das Thema Inklusion zuständig. „Da bin ich Experte in eigener Sache“, sagt Sonne und schmunzelt. Der gelernte Finanzbeamte kann aus eigenem Erleben beurteilen, wie es um Barrierefreiheit und Chancengerechtigkeit von Menschen mit und ohne Behinderungen in NRW tatsächlich bestellt ist.
Die Pflicht zur Gleichstellung wurde in der UN-Behindertenkonvention festgeschrieben und von Deutschland im Jahr 2009 ratifiziert. Das ist jetzt 15 Jahre her – für Sonne ist das Jubiläum kein Grund, den Erfolg zu feiern. „Es ist viel zu wenig passiert“, findet der Politiker aus Lüdinghausen im Münsterland. „In Schule, Ausbildung und im Berufsleben werden die Rechte von Behinderten immer noch regelmäßig missachtet. Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen“, sagt Sonne. „Wir müssen laut werden und uns mehr Gehör verschaffen.“
Als Fachsprecher im Landtag sendet Sonne regelmäßig einen Weckruf in die Politik, wenn es um Inklusion geht. Die Menschen erreicht der Abgeordnete aber auch über einen ganz anderen Kanal. Sonne ist Musiker und schreibt Songs über das Leben mit der Behinderung, die Mut machen sollen. Bei Konzerten tritt er als Rapper mit dem Künstlernamen „Sittin' Bull“ auf.
Bei den Special Olympics – der Olympiade der Menschen mit geistiger und mehrfacher Beeinträchtigung – trat er im vergangenen Jahr gemeinsam mit der Berliner Blue Man Group vor 50.000 Zuschauern auf. Der Titel seines Songs: „Unbeatable together“. „Das war ein sehr emotionaler Moment“, erinnert sich Sonne. Sein Pseudonym als Rapper nimmt Bezug auf den Sioux-Häuptling „Sitting Bull“.
Zahlreiche Baustellen bei Inklusion
Die Gremienarbeit im Landtag ist natürlich weniger schillernd. „Aber dort habe ich als Vertreter einer Regierungspartei die Chance, Politik aktiv mitzugestalten und Verbesserungen herbeizuführen. Viele Menschen glauben, wir hätten bei der Inklusion schon große Fortschritte erzielt. Aber das stimmt nicht. Es gibt zahlreiche Baustellen.“
Dennis Sonne stürzte im Jahr 2004 von einem Flachdach und ist seitdem querschnittsgelähmt. Bevor er 2022 in den Landtag einzog, war er als Finanzwirt im Finanzamt von Lüdinghausen (Münsterland) tätig. Sonne lebt in einer Beziehung mit einer Lehrerin.
Beispiel Schule: Viele behinderte Menschen haben keinen Abschluss, weil sie keine Regelschule besuchen. „Immer noch erklären viele Lehrer den Eltern, ihr Kind sei auf einer Förderschule besser aufgehoben“, sagt Sonne. Die Folge: „In NRW werden Förderschulen nicht geschlossen, sondern neue errichtet. Das liegt auf dem Land auch an Fehlanreizen. Der Transport zu einer Förderschule wird bezahlt und organisiert – wenn die Kinder zu einer inklusiven Regelschule gehen, müssen sich die Eltern selbst ums Bringen und Abholen kümmern“, so Sonne. Von den 144.280 Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf wurden im Jahr 2022 mehr als 79.700 an Förderschulen unterrichtet, das sind 2,1 Prozent mehr gegenüber 2021. „Das Gelingen der Inklusion hängt von den Rahmenbedingungen ab“, sagt Sonne. „Wir dürfen die Schulen bei der Ausstattung mit Fachpersonal nicht im Stich lassen.“
Bespiel Arbeitswelt: In NRW arbeiten 80.000 Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM)– zu einem Mini-Lohn von 1,30 Euro die Stunde. „Aber 25.000 haben eine abgeschlossene Berufsausbildung und könnten ohne Weiteres auch in einer normalen Anstellung, also einem sozialversicherungspflichtigen Verhältnis, tätig sein“, kritisiert der Grünen-Politiker Sonne. „Sie werden häufig in den Werkstätten als Billig-Jobber ausgebeutet. Diese Praxis ist nicht menschenrechtskonform – aber diese Art von Diskriminierung gehört zum Alltag vieler behinderter Menschen in NRW.“ Laut einer WfbM-Studie von 2023 wollen ein Viertel der Beschäftigten nicht in einer Werkstatt arbeiten.
Beispiel Mobilität: Von den mehr als 700 Bahnhöfen in NRW sind mehr als 100 nicht komplett barrierefrei. In NRW leben fast zwei Millionen Menschen mit Behinderungen. Zudem sind mehr als 20 Prozent der Menschen in NRW über 65 Jahre alt. „Auch sie profitieren früher oder später von Barrierefreiheit“, erklärt der Abgeordnete. „Wir kommen bei den nötigen Umbauten aber nur im Schneckentempo voran. Wo Aufzüge fehlen, können Bahnsteige für Rollstuhlfahrer zu einer bedrohlichen Falle werden.“ Sonne brachte im Februar einen Antrag ein, der sich mit barrierefreier Mobilität befasst und das Ziel „Mobilität für alle“ verfolgt.
Protestkundgebungen am 5. Mai
Beispiel Gesundheit: Auch viele Arztpraxen sind nicht barrierefrei zugänglich. „Häufig fehlt es an Ausstattung und Wissen, um Menschen mit Behinderung fachgerecht behandeln zu können“, beklagt Sonne. Besonders in der Frauen- und Geburtsmedizin gebe es große Engpässe. „Das ist ein wichtiges Thema, das viele nicht auf dem Schirm haben.“
Am 5. Mai findet auch in NRW der Europäische Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen statt. Das Motto lautet „Selbstbestimmt leben ohne Barrieren“. Dennis Sonne wird an diesem Tag an Veranstaltungen in Recklinghausen, Münster und Reken teilnehmen. Er ruft die Bürger auf, den Protest zu unterstützen. „Nach 15 Jahren UN-Behindertenkonvention müssen wir noch viel erreichen. Es fehlt eine Lobby für all diese Menschen. Also müssen wir ihre und unsere Lobby sein. Behinderte und nichtbehinderte Menschen müssen an einem Strang ziehen – dann sind wir zusammen unschlagbar“.