Die Pharmaindustrie testete bis in die 1970er Jahre Medikamente an Heimkindern in Nordrhein-Westfalen. Die Opfer leiden bis heute. Sie fordern, dass das Land sich seiner Verantwortung stellt.
Überlebende des Skandals im LandtagHeimkinder wurden in NRW für Medikamententests missbraucht
Uwe Werner sitzt am Mittwoch auf der Besucherbank, wenn der Sozialausschuss des Landtags zusammenkommt. Grund für sein Kommen ist der Tagesordnungspunkt eins. Die Landesregierung soll einen Bericht zum aktuellen Sachstand bei der Aufarbeitung eines Skandals abgeben, der fassungslos macht. Bis in die 70er Jahre wurden Heimkinder wie Versuchskaninchen für Tests von Medikamenten missbraucht. „Die Opfer, die noch leben, leiden bis heute unter den Folgen“, sagte Uwe Werner. Er ist der Vorsitzende der „Heimkinder Community NRW“, die sich für die Rechte der Betroffenen einsetzt.
Dunkles Kapitel der Landesgeschichte
Uwe Werner wurde kurz nach seiner Geburt im Jahr 1952 in einem Kinderheim untergebracht. Seine Kindheit sei „die Hölle“ gewesen, sagt der 71-Jährige im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Wie viele der wehrlosen Heimkinder wurde er körperlich gezüchtigt und Opfer von sexuellem Missbrauch. „Wir waren dem System ausgeliefert, viele wurden sediert und als Schwachköpfe abgestempelt“, sagt Werner.
Der Umgang mit den Heimkindern gehört zu den dunkelsten Kapiteln in der Geschichte von NRW. Viele Jahre nach Kriegsende bestimmte die menschenverachtende Geisteshaltung der Nationalsozialisten den Alltag in den Einrichtungen.
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Pharmahersteller: Nicht gegen geltendes Recht verstoßen
Viele Heimleitungen hatten keine Skrupel, die Schutzbefohlenen medizinischen Tests auszusetzen. Die Häuser waren zumeist in katholischer oder evangelischer Trägerschaft, im Rheinland führte der Landschaftsverband Rheinland ab 1963 die Heimaufsicht.
Unfassbar: Bisherige Untersuchungen ergaben, dass mindestens 80 Versuchsreihen mit Psychopharmaka, Antidepressiva, Schlaftabletten, Neuroleptika, Impfstoffen und Beruhigungsmitteln an Heimkindern durchgeführt wurden. Pharmahersteller verweisen darauf, man habe nicht gegen geltendes Recht verstoßen. Ein standardisiertes Zulassungsverfahren für Medikamente sei erst 1976 mit der Neufassung des Arzneimittelgesetzes eingeführt worden.
9000 Euro für ein zerstörtes Leben
In NRW leben rund 60.000 ehemalige Heimkinder. „Viele wurden zuckerkrank, einigen sind Brüste gewachsen, oder sie leiden unter Polyneuropathie, wurden von Neuroleptika abhängig“, sagt Uwe Werner. Viele Opfer könnten weder lesen noch schreiben, seien von Scham erfüllt. „Die meisten haben Probleme, Ansprüche durchzusetzen, viele werden mit kleinen Summen abgespeist.“ Von der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ erhielten manche Opfer einmalig 9000 Euro – nicht viel Geld für ein zerstörtes Leben.
Uwe Werner hat selbst 13 Jahre in Heimen gelebt. Er leider seitdem an Gleichgewichtsstörungen und benötigt ein Hörgerät. Dies sei eine Folge „der Ohrfeigen“ der Ordensschwestern, die ihn für einen Protestanten hielten, der besonders hart zu züchtigen sei.
In der NS-Zeit wurden verhaltensauffällige Jungen und Mädchen und Kinder aus unliebsamen Familien oft in Heime gebracht und dort für „schwachsinnig“ erklärt. Im Rahmen des Programms „Aktion T4“ wurden rund 70.00o Menschen mit geistigen Behinderungen umgebracht. Viele Heimärzte überstanden die „Entnazifizierung“ unbehelligt und konnten ihre Arbeit über Jahrzehnte fortsetzen.
Zeugen können Hinweise melden
Die schwarz-grüne Landesregierung hat eine Studie zum Missbrauchsskandal für den Zeitraum 1946 bis 1980 in Auftrag gegeben, Ergebnisse sollen Anfang 2025 vorliegen. NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann deutete an, dass das Land sich der Verantwortung stellen wird.
„Ohne den Ergebnissen der Forschenden vorzugreifen, scheint sich unsere Annahme zu bestätigen, dass der Medikamentenmissbrauch an Kindern in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und Psychiatrie häufiger üblich war, als bislang bekannt“, sagte der CDU-Politiker dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ auf Anfrage. Das Ziel der Landesregierung sei es, umfassend aufzuklären. „Das schulden wir den Opfern, die teilweise bis heute leiden. Wenn die Ergebnisse der Studie vorliegen, werden wir diese sorgfältig anschauen und prüfen müssen, wie wir die Opfer noch besser unterstützen können“, so Laumann.
Der Minister setzt darauf, dass durch die Aufarbeitung auch bislang nicht bekannte Vorfälle ans Licht kommen. Dazu wurde ein Zeitzeugenportal eingerichtet, auf dem sich Betroffenen oder damals Beschäftigte äußern können. Das Portal kann im Internet unter http://histmed.hhu.de/zeitzeugenportal aufgerufen werden.