Brigitte Seebacher spricht über die Zukunftsaussichten der SPD, die Rolle Gerhard Schröders und ihren Mann als Feminist und Witzeerzähler.
Altkanzler-Witwe Brigitte Seebacher„Schröder? Liegenlassen! Willy Brandt hätte gesagt: Nichtmal ignorieren!“
Frau Seebacher, die SPD hat am vergangenen Dienstag ihren 160. Geburtstag gefeiert. Sie haben gerade ein Buch zur Geschichte der Sozialdemokratie veröffentlicht. Wenn Sie heute auf diese Partei schauen, was sehen Sie?
Brigitte Seebacher: Ich sehe eine Partei, die im Herbst ihres Daseins steht. Die industriellen und sozialen Voraussetzungen sind nicht mehr vorhanden. Die Hoffnung, eine neue Welt bauen zu können, hat sich verflüchtigt. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle europäischen Länder.
Wann ist denn die alte Sozialdemokratie an ihr Ende gekommen?
Rund um 1968. In den 70er Jahren, hundert Jahre nach ihrer Gründung, erfreute sich die SPD eines unvorstellbaren Zustroms. Die neuen Mitglieder, zwischen Mitte der sechziger und Mitte der siebziger Jahre mehr als 600.000, waren jung, unter 35, und kamen überwiegend nicht aus der Arbeiterschaft. Die Studenten hatten noch nie eine Kelle oder einen Hobel in der Hand gehabt und strebten in den Öffentlichen Dienst, der in diesen Jahren enorm ausgeweitet wurde.
Vor allem waren sie Fleisch vom Fleisch der 68er-Bewegung. Sie waren Individualisten, provozierten gern und wussten auf der Klaviatur der neuen Mediengesellschaft zu spielen. Die Arbeiter in den hundert Jahren zuvor aber hatten Solidarität verinnerlicht. Individualität kannten sie nicht. Der Arbeiter in der Fabrik oder der Werkstatt konnte sich gegen Ausbeutung allein nicht wehren. Das konnte er nur im Kollektiv. Das ist der große Bruch, unvermeidlich.
Brigitte Seebacher: „In der Wirklichkeit bedarf es eines sozialen Trägers, der die Solidarität lebt, sie ausmalt und überhöht“
Der Kerngedanke der Sozialdemokratie ist die Solidarität. Den hätte die SPD doch auch unabhängig von der Existenz einer Arbeiterklasse weitertragen können.
Das ist Wunschdenken. In der Wirklichkeit bedarf es eines sozialen Trägers, der die Solidarität lebt, aus der täglichen Erfahrung heraus, sie ausmalt und überhöht: Dass alle Menschen gleich sind und gut und niemand auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. So sah Bebels sozialistisches Paradies aus. Die Hoffnung, dass eines Tages, wenn das kapitalistische System zusammenbricht, ein Paradies mit vollkommener Gerechtigkeit heraufzieht. Das war mehr als ein Traum. Das war gelebte Hoffnung, die geholfen hat, Unterdrückung und Verfolgung zu überstehen, auch noch in der Nazizeit. Als sich die Arbeiterklasse auflöste, im Zuge des technologischen, industriellen und sozialen Wandels, auch der neuen Bildungschancen, verflog die Solidarität und mit ihr die Hoffnung, dass es eines Tages nicht nur besser, sondern anders werde.
War Gerhard Schröders Agenda 2010 für Sie ein weiterer Bruch mit den Idealen der SPD?
Nein. Übrigens hat Willy Brandt, immerhin 23 Jahre lang ihr Vorsitzender, die SPD nicht zuerst vom Sozialen her verstanden, sondern viele Male gesagt: Die SPD ist die Partei, die nie Krieg und Diktatur über das deutsche Volk gebracht hat. Gelegentlich fügte er hinzu: Für den Sozialstaat gibt niemand sein Leben hin, für die Freiheit – ja.
Diese Partei verdankte ihre Gründung der Notwendigkeit, dem Arbeiter Würde und der Arbeit Wert zu geben. War das nicht der Gedanke hinter der Agenda 2010? Dass sich erstmal jeder selbst anstrengen muss, bevor Dienste der Gesellschaft in Anspruch genommen werden? Fördern, aber auch fordern. Schröder setzte seine eigene Lebensgeschichte um. Vor allem trug er der seinerzeit desaströsen wirtschaftlichen Lage Rechnung. War das nicht die Pflicht gerade eines sozialdemokratischen Kanzlers? Die Arbeitslosigkeit ging infolge der Agenda runter.
Brigitte Seebacher, 76, ist Historikerin und beschäftigte sich lange Zeit ihres Lebens mit der Sozialdemokratie, 30 Jahre bis 1995 war sie selbst Parteimitglied. Ihr Studium brachte sie in den 60er Jahren neben Bonn und Berlin auch nach Köln. Während ihrer Tätigkeit in der Pressestelle des Vorstands der SPD lernte sie 1977 den damaligen Parteivorsitzenden Willy Brandt kennen, mit dem sie von 1979 bis zu seinem Tod 1992 in Unkel zusammenlebte. Geheiratet haben die beiden 1983. 2003 heiratete Brigitte Seebacher in zweiter Ehe den Bankmanager Hilmar Kopper, der 2021 verstarb. Zum 160. Geburtstag der Partei ist Brigitte Seebachers neues Buch über die Geschichte der Sozialdemokratie herausgekommen: „Hundert Jahre Hoffnung und ein langer Abschied. Zur Geschichte der Sozialdemokratie“. Dietz 2023. 49,90 Euro.
Warum gelingt es der SPD nicht, ein Sprachrohr für diejenigen zu sein, die auf Erwerbsarbeit angewiesen sind?
Ist denn Erwerbsarbeit nur die Arbeit, die wenig oder sehr wenig einbringt? Wenn die SPD zuerst deren Sprachrohr sein wollte, käme sie in keiner Wahl mehr weit. Eine Partei, die das Land mit der größten Volkswirtschaft Europas regieren und nie dagewesene Herausforderungen bestehen will, braucht Wachstum. Die Pferde müssen saufen können. Der Satz von Karl Schiller, dem sozialdemokratischen Wirtschaftsminister zu Zeiten des Machtwechsels 1969, gilt auch heute.
Um in Ihrem Bild der sterbenden SPD zu bleiben: Waren vielleicht auch die Grünen eine Art Sargnagel für die SPD?
Die SPD kann noch lange bestehen, aber dass sich neue Kräfte sammeln, die sie tragen und prägen, ist wenig wahrscheinlich. Ihr Wort vom Sargnagel hat etwas. Der Zustrom versiegte an der Wende des Jahrzehnts von den siebziger zu den achtziger Jahren schlagartig. Seither nimmt die Mitgliedschaft ab. Das neue Umweltbewusstsein, einhergehend mit einem neuen Lebensstil, konnte sich in einer Partei, die aus dem Industriezeitalter kam, nicht entfalten, schon gar nicht als wichtigstes Merkmal. Die Parteigründung war unvermeidlich und ging auf Kosten der SPD. Die Grünen wollen bis heute glauben machen, dass sie allein um die Lebensgrundlagen wissen, ein Problembewusstsein haben und ihre Herangehensweise die einzig richtige ist. Dieser Hochmut mag historisch begründbar sein, heute kommt er vor dem Fall.
Wie ernst nehmen Sie die Bedrohung durch den Klimawandel?
Wer den nicht ernst nimmt, ist nicht von dieser Welt. Aber vor den Konsequenzen zuckt jede Partei zurück. Da wir die bedrohliche Entwicklung aufhalten und den inneren Frieden bewahren wollen, können nur Anreize gesetzt und technische Möglichkeiten eröffnet werden.
Könnte die SPD da eine Brückenfunktion einnehmen?
Die SPD selbst glaubt, das zu können. Aber kennen Sie eine Partei, die mit lauter Halbheiten erfolgreich war? Der Fortschritt hat uns in diese Lage gebracht, um herauszukommen, wird ein neuer Fortschritt benötigt. Wir wollen doch nicht wieder auf den Bäumen leben!
Nach einer verlorenen Landtagswahl und dem Rücktritt von Thomas Kutschaty sucht die NRW-SPD nach neuem Führungspersonal und Profil. Nun wurde Jochen Ott als neuer Fraktions-Chef gewählt. Wo muss sich die Partei verorten, um Erfolg zu haben?
Die Eisen-, Stahl- und Bergarbeiter haben die SPD in NRW groß gemacht. Die gibt es aber nicht mehr, nicht einmal mehr mit Subventionen. Die neuen Industrien bringen keine Arbeiter mehr hervor, die sich wie von selbst der SPD zuwenden würden. Wer ist jetzt „die NRW-SPD“? Von oben, aus der verbliebenen Partei heraus, die Wähler und Mitglieder zu suchen, für die man da sein will, ist nicht möglich.
Die Ostpolitik war ein Herzstück der sozialliberalen Koalition in den 70er Jahren. Damals gab es viel Häme von CDU-Seite, die SPD wurde als „fünfte Kolonne Moskaus“ bezeichnet. Bestätigt jemand wie Schröder diese CDU-Rhetorik nun?
Nicht mal die CDU selbst käme auf die Idee, eine Parallele über fünfzig Jahre hinweg zu ziehen. Die Deutschland- und Ostpolitik war angelegt noch in der Zeit des Kalten Krieges: Der deutschen Einheit würde man nur näher kommen mit der Sowjetunion. Vorausgesetzt, sie ließ ihre Finger von Westberlin und schwor jeder Gewalt ab. Der Moskauer Vertrag von 1970 war ein Vertrag des Gewaltverzichts. Die Schlussakte von Helsinki – Grenzen können verschoben werden, aber nur friedlich – hat auch der Kreml unterschrieben. Im Übrigen lohnt ein Blick auf die Zeitenwende von 1989/90. Die nachmaligen Parteivorsitzenden Lafontaine und Schröder, aber auch Egon Bahr, der selbsternannte Architekt der Ostpolitik, hielten die Zweistaatlichkeit Deutschlands hoch.
Willy Brandt sah das damals anders.
Ja, und zwar im Kern. Es ging um Selbstbestimmung, aus der die Einheit gefolgt ist. Die Mahnung verhallte in weiten Teilen einer Partei, die an der Wiege der Demokratie in Deutschland gestanden hatte. Lafontaine und Schröder, die Gegner der Einheit, sind übergangslos zu Putinfreunden mutiert. Wer 1989/90 von der Selbstbestimmung des eigenen Volkes nichts wissen wollte, der will heute von der Selbstbestimmung der Ukraine nichts wissen.
Wie mit Schröder umgehen? „Liegenlassen. Nichtmal ignorieren“
Wie soll die SPD mit Gerhard Schröder jetzt umgehen?
Liegenlassen. Willy Brandt hätte gesagt: Nichtmal ignorieren!
Wie würde sich Willy Brandt im heutigen Politikbetrieb fühlen?
Bedenken Sie, er war Jahrgang 1913, geprägt vom Untergang der Weimarer Republik und dem Aufstieg Hitlers. Er machte noch Politik mit Reden. Vor großen Parteitagen tauschten Helmut Schmidt und er die Entwürfe aus und handelten sich wechselseitig Sätze ab. Die Social-Media-Welt würden sie fluchtartig verlassen und in den Himmel zurückkehren.
Hätte sich Willy Brandt als Feminist geeignet?
Spontanes Nein, auch wenn er sehr früh Quoten eingeführt hat. Eine Geschlechtergerechtigkeit kannte er nicht und die Gendersprache erst recht nicht. Sein ausgeprägtes Sprachgefühl hätte rebelliert!
Sie haben Witze von Willy Brandt herausgegeben unter dem Titel „Lachen hilft“. Können Sie sich an einen Witz erinnern?
Nein, ich bin auch kein Witzetyp. Willy Brandt konnte die gut erzählen und hat sie auf Hunderten von Papierschnitzeln auch gesammelt. Ein guter Witzeerzähler war auch Johannes Rau. Der erzählte allerdings auch dann einen Witz, wenn es im Parteipräsidium mal ernst wurde und er sich zu einer Entscheidung hätte bekennen müssen. Solche Ausflüchte mochte Willy Brandt nicht.