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Kinderarzt über Armut als Gesundheitsrisiko„Man lässt diese Kinder sehenden Auges untergehen“

Lesezeit 3 Minuten
Kinder stehen im Rahmen eines Medientermins in einem Kindergarten nebeneinander.



Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in einer Familie mit sehr wenig Geld auf.

Kinder aus Haushalten mit ALG-2-Bezug haben auch gesundheitlich schlechtere Karten. Schon das Risiko, als Fötus geschädigt zu werden, ist um 155 Prozent erhöht. Aber auch Störungen u.a. der Sprachentwicklung finden sich in diesen Haushalten relevant häufiger.

Ein Report für Köln und die Region zeichnet vor allem beim Thema Kindergesundheit ein erschreckendes Bild. Ein Kinderarzt ordnet die Ergebnisse ein.

Herr Gerschlauer, der AOK-Gesundheitsreport zeigt mit Blick auf Kinder aus Köln und der Region, dass Kinder aus ALG-2-Haushalten deutlich kränker sind als Kinder mit mehr Geld in der Familie. Relevant erhöht sind Störungen der Sprachentwicklung, der motorischen Entwicklung, des Sozial- oder Essverhaltens sowie die Suchtgefährdung. Können Sie diesen Befund als Kinder- und Jugendarzt bestätigen?

Axel Gerschlauer: Die Zahlen zeigen eindrücklich, dass Armut ein Risiko für die Kindergesundheit ist. Die Statistiken halten uns das seit Jahren vor Augen. Es interessiert aber niemanden. Man lässt diese Kinder sehenden Auges untergehen. Dabei wäre es wichtig, endlich mehr in frühkindliche Bildung und gesundheitliche Aufklärung gerade bei diesen Kindern zu investieren.


Axel Gerschlauer ist Kinder- und Jugendmediziner in Bonn und seit 2021 NRW-Sprecher des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Er ist selbst Vater dreier erwachsener Kinder.


Wer müsste handeln?

Die Bundes- und Landesregierungen wären in der Pflicht, das Geld gerechter zu verteilen und die Bildungschancen für Kinder aus ärmeren Haushalten zu verbessern. Dazu braucht es gesundes Essen in den Kitas und Schulen, dazu braucht es gesundheitliche Aufklärung in besonders betroffenen Stadtteilen, dazu braucht es aber auch Förderunterricht für diejenigen, die nicht zwei Akademikereltern zu Hause haben, dazu braucht es kleinere Klassen, mehr Sozialarbeiter, Kita-Plätze für alle, flächendeckend „Frühe Hilfen“.

Können wir uns das alles leisten?

Wir müssen es uns auf jeden Fall leisten. Natürlich ist das alles personalintensiv. Aber wenn wir nicht handeln, fliegt uns alles um die Ohren. Als Kinder- und Jugendmediziner ist das natürlich eine Herzensangelegenheit: Wir müssen alle Kinder fördern und besonders die benachteiligten.

Aber man kann das auch knallhart wirtschaftlich sehen: Wir können als Industrienation, die auf kluge Arbeitskräfte angewiesen ist, die Ressource Kind doch nicht ungenutzt lassen. Im Moment verschwenden wir ganze Stadtteile an schlauen Kindern. Weil es uns wichtiger ist, dass Heizungen laufen und Autos schnell fahren. Aber diese Kinder sollen doch unsere Zukunft auf dem Arbeitsmarkt und als Rentenzahler sein. So wie wir mit ihnen umgehen, haben sie ein deutlich erhöhtes Risiko, als Erwachsene schwer zu erkranken, zum Beispiel an Adipositas, Herzinfarkt, Diabetes. Das ist wenig hilfreich.

Gibt es da keine Fortschritte?

Ich sehe keine. Im Gegenteil. Vor zwanzig Jahren war die Lage vergleichsweise rosig. Heute fehlt es schon an der Basis. Schon die Grundversorgung zerbröselt. Was daran liegt, dass wir in Kinder einfach nicht adäquat investiert haben. Sozialausgaben wurden runtergespart, es gibt weniger Kinderkrankenbetten in den Kliniken, nicht genug Kitas, viel zu wenig Erzieherinnen, zu wenige Lehrkräfte.