Nach einem Gutachten, das die Staatsanwaltschaft in Auftrag gab, hätten einige Sexualverbrechen im Bielefelder Klinikum Bethel verhindert werden können.
Klinikum BethelGutachten zur Vergewaltigungsserie belastet Chefs von Philipp G.
Im Fall der Vergewaltigungsserie im Klinikum Bethel in Bielefeld sieht ein Gutachter schwere Fehler bei dem Chefarzt und der Geschäftsführung. Ein dutzend Vergewaltigungen hätten demnach vermutlich verhindert werden können.
Die Staatsanwaltschaft Duisburg gab Anfang des Jahres ein Gutachten in Auftrag: Ein Sachverständiger sollte der Frage nachgehen, ob die Vorgesetzten des Serienvergewaltigers Philipp G. ihre Pflichten verletzten und ein Organisationsverschulden innerhalb des Klinikums vorliegt. Dieses Gutachten existiert nun.
Der Assistenzarzt Philipp G. hat zwischen 2018 und 2020 im Klinikum Bethel in Bielefeld mindestens 30 Frauen betäubt und vergewaltigt. Seine Taten filmte er und speicherte sie auf einer Festplatte. Nach seiner Verhaftung im September 2020 beging er Suizid. 25 Opfer erstatteten nach seinem Tod Strafanzeigen, die sich unter anderem gegen einen Chefarzt, einen Oberarzt und die Klinikleitung richten.
Gutachten nennt Aufklärungsmaßnahmen oberflächlich
Wie das „Westfalen-Blatt“ zuerst berichtete, belastet das Gutachten nun den Chefarzt, unter dem Philipp G. arbeitete. Im September 2019 erhob eine Patientin erstmals Vorwürfe gegen Philipp G. und schilderte ein auffälliges Verhalten des Arztes. Schon bei einem früheren Krankenhausaufenthalt war die Patientin auf einem Fläschchen des Betäubungsmittels Propofol aufgewacht, nachdem G. nachts ihr Zimmer betreten hatte. Sie erstattete Anzeige.
Der Chefarzt sprach daraufhin mit dem jungen Arzt. Dem Gutachten zufolge wirkten diese Aufklärungsmaßnahmen jedoch oberflächlich und schienen eher das Ziel zu verfolgen, die Vorkommnisse auf sich beruhen zu lassen. Gründliche Nachforschungen und das Einleiten disziplinarischer Maßnahmen fanden demnach nicht statt.
Im Januar 2020 wurde Philipp G. zu einem Gespräch mit seinen Vorgesetzten gerufen, das in einem Protokoll festgehalten ist. Zwei Pflegerinnen hatten beobachtet, wie G. nachts mit einem Infusionstablett in einem Patientinnenzimmer verschwand, obwohl niemand einen Arzt angefordert hatte. Am nächsten Tag wunderte sich eine weitere Pflegerin über einen nicht verordneten Zugang am Arm einer Patientin. Die Pflegerin meldete den Fall.
Gutachter spricht von Organisationsversagen
Bei dem Gespräch mit seinen Chefs gab G. an, sich in der Tür geirrt zu haben – allerdings war auf der Station auch für keinen anderen Patienten ein Zugang angefordert worden. Seine Vorgesetzten reagierten mit Unverständnis: Ein Zugang ohne Indikation gilt als Körperverletzung. Trotzdem ist offenbar in G.s Personalakte zu dem Vorfall nichts vermerkt.
Laut Gutachten hätte nun klar sein müssen, dass es sich nicht um fehlerhaftes ärztliches Handeln, sondern um vorsätzliche kriminelle Taten handelte. Spätestens im Januar 2020 hätte die Geschäftsführung involviert werden und disziplinarische Konsequenzen erfolgen müssen. Das Handeln des Chefarztes nennt der Gutachter inkonsequent und insuffizient.
Auch die fehlende Kommunikation zwischen Chefarzt, Pflegedienstleitung und Geschäftsführung habe eine Aufklärung verhindert, findet der Gutachter. Informationen seien in den Hierarchien versackt. Bessere Kommunikationsstrukturen hätten seiner Ansicht nach die Taten von G. schon im September 2019 aufdecken und weitere Verbrechen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindern können. Nach dem Vorfall im September 2019 vergewaltigte G. mindestens zwölf weitere Patientinnen. Der Gutachter spricht von Organisationsversagen.
Staatsanwaltschaft geht „weiteren Ermittlungsansätzen“ nach
Die Medienberichte über das Gutachten „bestätigen, was wir seit über vier Jahren sagen und fordern“, so Stefanie Höke, die elf Betroffene vertritt. Die Opferanwältin hofft, dass innerhalb des kommenden halben Jahres Anklage erhoben wird. „Meine Mandantinnen wollen, dass der Fall aufgeklärt wird“, sagt sie. „Erst, wenn das Strafverfahren abgeschlossen ist, können viele Betroffene die Tat verarbeiten.“
Die Staatsanwaltschaft schreibt auf Anfrage, aus dem Gutachten hätten sich „weitere Ermittlungsansätze“ und Rückfragen an den Sachverständigen ergeben. „Die Antwort auf diese Rückfragen liegt noch nicht vor“, so die Staatsanwaltschaft. „Den weiteren Ermittlungsansätzen wird derzeit nachgegangen.“