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Vergewaltigungen im Klinikum Bethel„Sie hatten aber noch spät Besuch!“ – Doch Britta Schulte erinnert sich nicht

Lesezeit 6 Minuten
Monika Schulte wurde im Klinikum Bethel Opfer des Assistenzarztes Philipp G.

Britta Schulte ist im Unklaren darüber, wie weit sie im Klinikum Bethel Opfer des Assistenzarztes Philipp G. wurde.

Britta Schulte wurde im Klinikum Bethel durch den Serienvergewaltiger Philipp G. betäubt. Als Vergewaltigungsopfer zählen die Ermittler sie trotzdem nicht. Wie kann sie die Wahrheit finden?

Mittlerweile, sagt Britta Schulte, sei sie richtig wütend. Es brauchte lange, bis sich diese Wut aufbaute. Sie ärgerte sich, als sie während ihres Aufenthalts im Klinikum Bethel keine Erklärung für den Zugang bekam, der ihr spätabends von einem Assistenzarzt gelegt wurde. War schockiert, als ihr die Polizistin im Februar 2023 nach ihrer Vernehmung als Zeugin eine Liste mit Geschlechtskrankheiten jenes Assistenzarztes in die Hand drückte. „Erst habe ich gedacht: Lass das alles nicht so dicht an dich ran“, sagt Britta Schulte, die eigentlich anders heißt. Die 58-Jährige hat zwei Kaffeetassen auf den Wohnzimmertisch gestellt, sie spricht ruhig, fast zögerlich. „Aber diese ganzen Widersprüche, dieses ganze Durcheinander, ärgern mich so.“

Der Fall des Assistenzarztes Philipp G., der im Klinikum Bethel dutzende Frauen betäubte und vergewaltigte, steht heute für ein Versagen auf mehreren Ebenen. In der Klinik versandeten Hinweise auf G.s verdächtiges Verhalten. Nach G.s Suizid wurden die Verfahren gegen seine Vorgesetzte eingestellt, ohne die betroffenen Frauen über die Vergewaltigungen zu informieren. Erst nachdem das NRW-Justizministerium den Fall an die Staatsanwaltschaft Duisburg übertragen hatte, entschied diese: Die Opfer müssen informiert werden. Im Januar 2022 schickte sie Polizisten zu den im Klinikum vergewaltigten Frauen.

Schulte sollte eine Zeugenaussage zu ihrer Bettnachbarin machen

Im Frühjahr 2023 teilt die leitende Oberstaatsanwältin gegenüber dem Rechtsausschuss des NRW-Landtags mit: „Soweit es die Straftaten des verstorbenen Assistenzarztes im Klinikum Bethel betrifft, sind sämtliche geschädigte Patientinnen (...) identifiziert und entsprechend informiert worden.“ Eine gemeinsame Recherche von „Kölner Stadt-Anzeiger“, dem „Westfalen-Blatt“ und dem ARD-Magazin „Kontraste“ zeigt: Im Falle von Britta Schulte war es eine Information, die vor allem die eine Frage aufwirft. Ab welchem Moment gilt eine Betroffene als Opfer einer Vergewaltigung?

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Bei Britta Schulte klingelte im Januar 2022 niemand. Stattdessen will die Polizei Anfang Februar 2023 mit ihr über die junge Frau, die im Bett neben ihr lag, sprechen. Diese sei Opfer einer Sexualstraftat geworden. Beim persönlichen Gespräch schiebt die Polizistin Britta Schulte auf dem Bielefelder Polizeipräsidium ein Foto von Philipp G. über den Tisch, aufgenommen am Tag seiner Verhaftung. Schulte erkennt ihn. Es ist der Arzt, der spätabends in ihr Zimmer kam, um ihr einen Zugang zu legen – ihr, Britta Schulte. Nicht einer Bettnachbarin.

„Sie hatten aber noch spät Besuch!“, sagte Schultes Bettnachbarin

Britta Schulte schildert ihren Klinikaufenthalt wie folgt: Ende Juni 2019 wird sie auf der Neurologie des Klinikums Bethel aufgenommen. Ihre Migräne ist unerträglich geworden. Auf Schultes Zimmer döst eine junge Patientin in ihrem Bett – das Opfer von Philipp G., von der die Polizistin gesprochen hatte.

Kurz darauf wird Britta Schulte auf ein anderes Zimmer verlegt, sie teilt sich nun den Raum mit einer älteren Dame, etwa 70 Jahre alt. Am selben Abend betritt Philipp G. das Zimmer. Er müsse ihr einen Zugang legen, sagt der junge Assistenzarzt zu Schulte. „Wieso?“, fragt sie. Bei den Untersuchungen zuvor hatte sie extra gefragt, ob sie einen Zugang brauche. Das wurde verneint. Der Arzt weicht aus, schaut sie nicht an, starrt zu der Seniorin im Nachbarbett. Nuschelt etwas von Untersuchungen am nächsten Tag. Schulte ist zu müde, um zu diskutieren. Irgendetwas werden die sich ja dabei gedacht haben, denkt sie. Dann schläft sie ein.

An weitere Besuche von Philipp G. erinnert sie sich nicht. Dafür an ihre Irritation, als ihre Bettnachbarin eines Morgens sagte: „Sie hatten aber noch spät Besuch!“

Das Klinikum Bethel in Bielefeld

Das Klinikum Bethel in Bielefeld

Jeden Tag, so Schulte, fragt sie bei der Visite nach dem Grund für den Zugang in ihrem Arm. Nicht einmal wird er im Rahmen einer ärztlichen Behandlung genutzt. Am Tag der Entlassung hält Schulte ihren Arm einer Schwester entgegen: „Soll ich damit nach Hause gehen?“ Die Pflegerin stutzt. Fragt, wer ihr den Zugang gelegt hat. Schulte erinnert sich nicht an den Namen, doch sie beschreibt das Aussehen von Philipp G.. Die Schwester nickt. Entfernt den Zugang und geht.

Britta Schulte ist auf keinen der Vergewaltigungsvideos zu sehen

Dreieinhalb Jahre später, nachdem Britta Schulte auf dem Bielefelder Polizeipräsidium ihren Krankenhausaufenthalt geschildert hat, stellt sie die Frage, vor deren Antwort sie seither Angst hat. Kann es sein, dass ich gar keine Zeugin, sondern Betroffene bin? Die Polizistin habe verneint, sagt Schulte. Sie sei auf keinem der Videos zu sehen, die Philipp G. von seinen Taten gemacht hatte.

Aber: Bevor sie aufbricht, drückt die Polizistin Schulte ein Blatt in die Hand. Es ist eine Auflistung der Geschlechtskrankheiten, die bei Philipp G.s Autopsie festgestellt wurden. Schulte starrt sprachlos das Papier an. Vermutlich betrifft Sie das nicht, sagt die Polizistin.

Die Staatsanwaltschaft teilt auf Anfrage mit: „Da die Zeugin jedenfalls einen Zugang erhalten hat (...), kann letztlich ein Sexualdelikt nicht mit absoluter Gewissheit ausgeschlossen werden. Höchst vorsorglich wurde ihr daher ein Merkblatt überreicht.“ Da bei der Obduktion von Philipp G. zwei Geschlechtskrankheiten festgestellt wurden, seien „sämtliche identifizierten – potenziellen – Sexualkontakte des G. hierüber in Kenntnis gesetzt worden.“

Schulte trennt sich nach Entlassung von ihrem Lebensgefährten

Kurz nach der Entlassung aus dem Krankenhaus fährt Britta Schulte mit ihrem langjährigen Lebensgefährten in einen Camping-Urlaub. Am Abend legt er einen Arm um Britta Schulte, zieht sie an sich, wie er es schon unzählige Male vor dem Einschlafen gemacht hatte. Britta Schulte überkommen Schweißausbrüche. Die Nähe, die sie vorher so genossen hat, erträgt sie nicht mehr, intimen Kontakt lehnt sie komplett ab. Ihr Partner versteht die Welt und Britta Schulte sich selbst nicht mehr; sie trennen sich.

Während sie von diesem letzten gemeinsamen Urlaub berichtet, weint sie. „Ich frage mich, was anders gelaufen wäre, wenn ich von alldem eher gewusst hätte.“

Anfang September 2023 öffnet Britta Schulte einen Umschlag, der ein Schreiben der Opferschutzbeauftragten des Landes NRW und der Pastorin des Klinikums Bethel enthält. „Mit großer Betroffenheit habe ich erfahren, dass Sie Opfer einer Straftat durch einen im Klinikum beschäftigen Arzt geworden sind“, schreibt die Opferschutzbeauftragte. In dem Brief der Pastorin steht: „Sie erhielten ein weder verordnetes noch nötiges Betäubungsmittel. Diese Sedierung erfolgte zu Unrecht. Das bedauern wir sehr und bitten um Entschuldigung.“ Das Klinikum Bethel bietet ihr bis zu 10 000 Euro aus dem Unterstützungsfonds für Therapien oder ähnliche Hilfe an. Die anderen Opfer bekamen zusätzlich eine hohe Entschädigungszahlung. Frauen, von denen es Videos von den an ihnen begangenen Taten gibt.

Staatsanwaltschaft zählt nur Frauen als Opfer, von deren Vergewaltigung es Videos gibt

Im November 2023 wendet sich Britta Schulte an die Anwältin Stefanie Höke, die bereits andere Opfer von Philipp G. vertritt. Kurz vor Weihnachten betritt Schulte, gemeinsam mit Höke, für eine Nachvernehmung erneut das Polizeipräsidium. Die Polizei teilt Schulte mit: Nach Stand der Ermittlungen sei sie Opfer einer falschen Zuganglegung - keiner Vergewaltigung.

Die Staatsanwälte gehen davon aus, dass Philipp G. Schulte sedierte, um sich an ihrer Zimmernachbarin, der jungen Patientin, zu vergehen. Einen späteren Tatzeitpunkt hält sie für unwahrscheinlich, nach der Entlassung der jungen Patientin sei G. zudem im Urlaub gewesen. Höke hält dagegen. Wenn ein Serienvergewaltiger wie Philipp G. eine Patientin sediert, könne man nicht einfach davon ausgehen: Da ist weiter nichts passiert. Und Schulte sagt: Als Philipp G. in ihr Zimmer kam, hatte sie bereits eine andere Zimmernachbarin. Diese Zimmernachbarin, so die Staatsanwaltschaft, versuche man nun zu ermitteln.

Eine klare Antwort, was genau im Sommer 2019 im Klinikum Bethel geschah, bekommt Britta Schulte auch bei der zweiten Vernehmung nicht. Womöglich wird es eine Gewissheit nie geben.

Die Staatsanwaltschaft Duisburg geht von 30 vergewaltigten Frauen im Klinikum und vier weiteren Opfern aus, die einen Zugang gelegt bekommen haben sollen. Die Unterscheidung zwischen Opfer einer Vergewaltigung und Opfer einer Körperverletzung, so die Staatsanwaltschaft, stütze sich ausschließlich auf das Vorhandensein oder Fehlen von Videos. Juristisch gilt die Unschuldsvermutung für Philipp G. auch über seinen Tod hinaus.