105 Überlastungsanzeigen sind aus der NRW-Justiz bereits in diesem Jahr ergangen. Minister Benjamin Limbach zeigt, was die Nachbesetzung von vakanten Stellen angeht, Optimismus. Aber auch die EU-Kommission rüffelt: Die Besoldung der Staatsdiener ist zu niedrig.
Krise in der JustizRichter und Staatsanwälte in NRW so überlastet wie nie
Die Zahlen klingen dramatisch: Seit Jahresbeginn hat die NRW-Justiz 105 Überlastungsanzeigen angemeldet. 2022 waren es 71, im vorvergangenen Jahr lag die Zahl bei 85. Dies geht aus einer Antwort des NRW-Justizministers Benjamin Limbach (Grüne) auf Anfrage der AfD-Fraktion im Landtag hervor.
Die meisten Anzeigen, die wie verzweifelt Hilferufe wirken, kamen in 2023 bisher aus der Staatsanwaltschaft (75) sowie von den Oberlandes-, Land- und Amtsgerichten (28). In zwei Fällen hissten auch Sozialgerichte die weiße Flagge. Um das „Ziel einer personell gut ausgestatteten Justiz“ zu erreichen, sind nach Angaben der NRW-Landesregierung „seit 2018 rund 3.300 neue Planstellen und Stellen“ geschaffen worden. Demnach arbeiteten 5383 Richterinnen und Richter sowie 1480 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in NRW.
120 offene Stellen in NRWs Staatsanwaltschaften
„Im richterlichen Dienst“ sei deshalb bereits „eine auskömmliche Stellenausstattung und Stellenbesetzung erreicht worden“. Bei den Staatsanwaltschaften werde „mit Nachdruck“ daran gearbeitet, die „noch etwa 120 offenen Stellen“ zu besetzen. Zudem sei für den Landeshaushalt 2024 der Bedarf von weiteren Stellen angemeldet worden. Insgesamt halte „die Landesregierung die personelle Situation an den Gerichten und Staatsanwaltschaften aufmerksam im Blick“, um die Personalplanung – falls nötig – nachzujustieren.
Experten hingegen ziehen die optimistische Perspektive von Limbachs Ministerium in Zweifel. Denn die Lage in den Anklagebehörden ist äußerst prekär. Wie der Deutsche Richterbund NRW dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ mitteilte, hat das Justizministerium gerade erst für jeden Staatsanwalt eine Arbeitsbelastung von 143 Prozent prognostiziert. Gerade in den allgemeinen Abteilungen, die den einfachen Diebstahl über Körperverletzung bis zum Straßenraub behandeln, stapeln sich die Akten. Allein in Köln liegen demnach 32.000 Fälle auf Halde, dicht gefolgt laut von Duisburg mit 23.000 Fällen, wie die „Westdeutsche Allgemeine“ (WAZ) berichtete.
Richterbund-Geschäftsführer: „Die Spitzen-Absolventen der Jura-Fakultäten folgen lieber gut dotierten Angeboten aus den Anwaltskanzleien"
In Düsseldorf schiebt jeder Dezernent aus dem allgemeinen Bereich 300 Verfahren vor sich her. Ein Ende der Misere ist nicht in Sicht. „Mit den in der Haushaltsplanung 2024 bislang vorgesehenen Verbesserungen von 20 Staatsanwaltsposten und weiteren 20 Stellen im Servicebereich ist die Landesregierung von einer Lösung des Problems weit entfernt“, moniert Gerd Hamme, Geschäftsführer des Deutschen Richterbundes NRW. „Das Problem wird sich zukünftig eher weiter verschärfen.“
Denn der Job als Strafverfolger hat zusehends an Reiz verloren. Marode Justizgebäude und Büros, miserable Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung – die Klagen aus den Behörden häufen sich. Deshalb fällt es bereits schwer, vorhandene Stellen zu besetzen. Laut Hamme ist es für das Land zunehmend problematisch, qualifizierten Nachwuchs für den Staatsdienst zu gewinnen. „Die Spitzen-Absolventen der Jura-Fakultäten folgen lieber gut dotierten Angeboten aus den Anwaltskanzleien, als in den Staatsdienst zu treten. Denn schon als Einstiegsgehalt verdienen sie teilweise mehr, als ein Staatsanwalt am Ende seiner Laufbahn“, so der Experte.
Auch die Verlockungen des Richter- oder Beamtenstatus ziehen laut seiner Einschätzung hierzulande längst nicht mehr. „2022 hatten wir die größte Zahl von Jura-Absolventen, aber die niedrigste Bewerberrate für den Richterberuf in der ordentlichen Gerichtsbarkeit seit 2016“, berichtet Hamme. „Die Landesregierung und der Justizminister haben es nicht geschafft, sich den neuen Herausforderungen am Arbeitsmarkt zu stellen“, resümiert der promovierte Jurist. Angesichts der bevorstehenden Pensionierungswelle der Boomer-Jahrgänge bei Staatsanwaltschaften und Gerichten werde sich das Problem „dramatisch verschärfen“.
EU-Kommission rüffelt Deutschland für Besoldungspolitik
In einem aktuellen Report hat die EU-Kommission Deutschland erneut wegen der viel zu niedrigen Besoldung ihrer Staatsdiener bei der Justiz gerüffelt. Die Politik habe „auf Bundesebene keine weiteren Schritte unternommen, um angemessene Ressourcen für die Justiz bereitzustellen“.
In einer Studie zu 46 Mitgliedsstaaten liegt das Gehalt der Richter und Staatsanwälte im Vergleich zum Durchschnittseinkommen der Bevölkerung in Deutschland auf einem der niedrigsten Stände in Europa. Der Europarat forderte die für den Justizbereich zuständigen Bundesländer auf, diesen Mangel zu beheben. Auch drängte Brüssel nochmals, den so genannten Rechtsstaatpakt, in dem es um finanzielle Hilfen für mehr Justizpersonal geht, durch die Bundesregierung auszubauen. Bisher erfolglos.
Richterbund-Geschäftsführer Hamme fürchtet, dass die Justiz personell ausblutet, mit gravierenden politischen Folgen: „Rechtstaat und Demokratie sind keine Naturgesetze. Eine schwache dritte Staatsgewalt ist ganz oft ein erstes Anzeichen dafür, dass der Rechtsstaat bröckelt, und genau diese Gefahr sehe ich.“