Der tausendfache sexuelle Missbrauch von Kindern auf einem Campingplatz in Lügde wurde vor vier Jahren enttarnt. Kein einziges der 30 Opfer aus NRW wurde bisher entschädigt, weil die Behörden noch nicht entschieden haben.
LügdeNoch kein einziges Kind aus NRW wurde bisher entschädigt
Sie haben die Kinder missbraucht. Jahrelang, mindestens von 2008 bis zum Dezember 2018, haben zwei Dauercamper im ostwestfälischen Lügde mit den Kleinen gemacht, was sie wollten. Unbehelligt von Jugendamt und Polizei, die Hinweise auf den Missbrauch grotesk falsch interpretierten oder schlichtweg verschlampten. Grob geschätzt geht die Staatsanwaltschaft von 1000 Einzeltaten der letztlich drei ermittelten Haupttäter aus, die mittlerweile zu langen Freiheitsstrafen mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt wurden.
Die Opfer aber warten, etwa vier Jahre nachdem die Verbrechen enttarnt wurden, immer noch auf eine Entschädigung. Nicht ein einziger der 30 in NRW nach dem Opferhilfegesetz gestellten Anträge sei mittlerweile beschieden worden, bestätigte der für die Angelegenheit zuständige Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) auf Anfrage. Bei gut einem Drittel der Fälle scheitere es noch an Rückmeldungen der Antragsteller, die weiteren Fälle sind in der „administrativen und medizinischen Sachverhaltsaufklärung“.
Landschaftsverband verweist auf Einzelfall-Prüfung
Das Opferentschädigungsgesetz (OEG) schreibe „ganz klar vor, dass wir nur dann Entschädigungen zahlen dürfen, wenn die Tat einen dauerhaften Gesundheitsschaden verursacht hat“, rechtfertigte ein LWL-Sprecher die lange Bearbeitungsdauer: „Also länger als ein halbes Jahr.“ Und die in Lügde begangenen Gewaltdelikte bestünden „sowohl in ihrer Intensität als auch in ihrer Ausführung aus unterschiedlichen Sachverhalten, die gemäß dem Gesetz stets im Einzelfall“ geprüft werden müssten.
Um die Opfer „nicht durch spezielle Untersuchungen zu belasten“, werde zunächst versucht, „eine Entscheidung aufgrund von vorliegenden Befundunterlagen zu treffen“, erläuterte der Sprecher. Dies sei „jedoch davon abhängig, ob überhaupt aussagekräftige Befundunterlagen vorgelegt werden“. Eine entsprechende „Sachverhaltsaufklärung“ erfordere daher „viele zeitintensive Einzelschritte und die Mitarbeit von Behandlern, Antragstellern und gegebenenfalls Erziehungsberechtigten“, so der Landschaftsverband.
Akten der Staatsanwaltschaft werden ausgewertet
Um den rechtlichen Anforderungen gerecht zu werden, müssten zudem „sämtliche staatsanwaltschaftliche Akten, die dem LWL erstmals im November 2020 in Form mehrerer Kisten vorgelegt wurden, gesichtet werden“. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass die strafrechtlichen Ermittlungsakten täterorientiert aufgebaut sind. „Sie stellen nicht die Opfer in den Mittelpunkt, die benötigten Informationen müssen daher teilweise kleinteilig und zeitintensiv recherchiert werden“, betonte der Sprecher.
In gut einem Drittel der zu bearbeiteten Fälle gestalte sich die Kommunikation und Zusammenarbeit mit den Antragstellern zudem „äußerst anspruchsvoll, nicht zuletzt, weil es sich für die Betroffenen um eine sensible, schambesetzte und oftmals erschütternde Thematik handelt“. Da trotz „mehrmaliger Erinnerung wesentliche sachverhaltsaufklärende Informationen dem Landschaftsverband“ nicht vorgelegt worden seien, seien „allen betroffenen Antragstellerinnen und Antragstellern entsprechende Beratungsgespräche vor Ort zur Klärung offener entscheidungsrelevanter Fragen angeboten und in einzelnen Fällen weitere öffentliche Institutionen wie etwa Jugendämter zur Vermittlung eingebunden“ worden.
Niedersächsische Behörden haben längst schon entschieden
Bisher gibt es also keine Entschädigungen trotz angeblichem Maximaleinsatzes der Behörden: Trotzdem alles in Ordnung? Ja, so sieht es zumindest das nordrhein-westfälische Sozialministerium. Auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ nach einer eigenen Einschätzung wird dort überwiegend die Sichtweise des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe zitiert. „Nach Kenntnis“ des Ministeriums stünden die zuständigen LWL-Mitarbeitenden zudem „seit längerem in einem sehr engen persönlichen Kontakt mit den Familien der betroffenen Kinder und Jugendlichen und stimmen die notwendigen Ermittlungsschritte sowie unter anderem Untersuchungstermine eng ab“.
Und immerhin: Man sei „mit dem Landschaftsverband in einem fachlichen Austausch, um möglichst alle Beweiserleichterungsmöglichkeiten, die das Opferentschädigungsgesetz bietet, zugunsten der Betroffenen zu nutzen, damit die gestellten Anträge mit der gebotenen Sorgfalt, zugleich jedoch so schnell wie möglich beschieden werden können.“ Das „klare Ziel“ jedenfalls sei, „allen Betroffenen, die unfassbares menschliches Leid erfahren haben, eine Entschädigung zukommen zu lassen.“
Wann die Ankündigungen jedoch zu Taten führen könnten, steht offenbar noch in den Sternen. Beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe jedenfalls war keine Auskunft darüber zu erhalten, wann wenigstens über einen ersten Antrag entschieden werden könnte.
Vielleicht sollten die Experten vom Landschaftsverband und NRW-Ministerium einmal in Niedersachsen nachfragen. Für sechs der 13 dort lebenden Lügde-Opfer sei bereits eine Entschädigung bewilligt worden, heißt es beim niedersächsischen Landesamt für Soziales auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“. Bei der noch nicht entschiedenen Hälfte der Anträge seien im Gegensatz zur Vorgehensweise in NRW längst Gutachten in Auftrag gegeben worden, die zwar noch nicht abgeschlossen seien. „Gerne aber können Sie uns in einigen Wochen nach weiteren erfolgten Bewilligungen ansprechen“, teilte das Landesamt mit.