In der Debatte um Clan-Abschiebungen werden auch immer wieder Aussteigerprogramme gefordert. In Duisburg wurde vor mehr als zehn Jahren eine Initiative gegründet, die sich kindlichen und jugendlichen Intensivtätern zuwendet. Ein Teil der Teilnehmer stammen aus Clan-Familien.
Präventionsprojekt für Jugendliche Intensivtäter„Wir wollen die Schlimmsten der Schlimmen aufnehmen“
Wie lässt sich Clan-Kriminalität in Deutschland besser bekämpfen? Diese Frage wird wieder hitzig diskutiert. Hitzig auch deshalb, weil Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vorschlug, künftig auch nicht-vorbestrafte ausländische Clan-Mitglieder abzuschieben. Ein Vorschlag, der einen Bruch der Verfassung bedeuten würde, wie die Opposition einwirft . Und der schon allein daran scheitern dürfte, dass ein großer Teil der Clan-Mitglieder in Deutschland auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Nichtsdestotrotz unterstützen laut einer Forsa-Umfrage 67 Prozent der Bevölkerung Faesers Vorschlag.
Politisch motivierten Straftätern wie Rechtsextremisten und Islamisten steht zu jeder Zeit der Ausweg über ein Aussteigerprogramm offen. Gibt es keinen politischen Hintergrund – wie beispielsweise bei Clan-Kriminalität – ist die Lage deutlich schwieriger. Vergleichbare Projekte gibt es für Clan-Aussteiger offenbar nicht. Wenn es in Interviews um Clan-Kriminalität geht, nennt NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) gerne das Rolex-Beispiel. Ein Polizist habe es ihm mal in einem Gespräch genannt. „Wenn Sie einem jungen Clan-Mitglied sagen, dass Sie einen Ausbildungsplatz für ihn haben, dann guckt er auf seine Rolex und sagt: Hab gerade keine Zeit.“
Nordrhein-Westfalen setzt bisher auf Prävention und darauf, die jüngsten Intensivtäter zu erreichen, bevor sie vollständig strafmündig sind. In Duisburg wurde 2010 eine Initiative gegründet, die genau solche Intensivtäterkarrieren dort verhindern will, wo sie beginnen. Offenbar ist das NRW-Innenministerium mit den Ergebnissen zufrieden: Die Initiative soll noch in diesem Jahr auf das ganze Bundesland ausgeweitet werden.
Polizisten erstellen Liste mit Intensivtätern
„Kurve kriegen“ ist heute an 40 Standorten der Polizei in Nordrhein-Westfalen angegliedert. Das Konzept dabei: Polizisten erstellen jedes Jahr eine Liste mit den Namen von Intensivtätern im Alter von acht bis 15 Jahren. „Unser Grundsatz ist: Wir wollen die Schlimmsten der Schlimmen aufnehmen“, sagt Torsten Meldau, Polizeihauptkommissar in Duisburg. Je jünger die Intensivtäter, desto höher werden sie priorisiert. Im nächsten Schritt besucht ein Polizist die Familie und stellt den Eltern und dem Kind die Initiative „Kurve kriegen“ vor.
„Man darf den Jugendlichen und ihrer Familie keine Vorwürfe machen, sondern muss erklären: Jetzt ist ein Punkt erreicht, an dem sich etwas ändern muss“, erklärt Meldau. „Es besteht immer eine Bereitschaft, darüber mit der Polizei zu sprechen. Wenn die Leute nicht überzeugt sind, wird freundlich abgesagt.“ Rund die Hälfte betroffener Familien sagt aber zu. Die Teilnahme ist immer freiwillig. Sobald die Eltern ihre Erlaubnis erteilt haben, leiten die Beamten die Akten der Teilnehmer an eine pädagogische Fachkraft weiter. Diese hat ihren Arbeitsplatz zwar im Polizeipräsidium, ist aber nicht bei der Polizei angestellt, sondern bei einem Wohlfahrtsverband – im Fall von Duisburg beispielsweise das Diakoniewerk.
Einer dieser pädagogischen Fachleute ist Markus Witalinski. Seine Tätigkeit bei „Kurve Kriegen“ bezeichnet er als „klassische Sozialarbeit“: Witalinsnki stellt den Familien die Initiative aus pädagogischer Sicht vor und trifft sich regelmäßig mit den Teilnehmern. Er versucht, Ansprechpartner zu werden, einer, mit dem der Jugendliche über seine Probleme reden kann. Zuhause, bei einem Eis oder bei einem Ausflug.
„Ich bin Sozialarbeiter, kein Polizist. Das öffnet Türen“, sagt Witalinski. Ein Polizist unterliege dem Legalitätsprinzip: Wenn der Jugendliche von einer Straftat erzählt, die er begangen hat, ist der Beamte dazu verpflichtet, Ermittlungen einzuleiten. Für Witalinski gilt das nicht. „Deshalb wird mir der Jugendliche mehr erzählen.“ Die Häufigkeit seiner Besuche variiert zwischen einmal im Monat und mehrmals pro Woche je nachdem, wie stabil der Teilnehmer ist.
20 Prozent Kinder aus Clan-Familien
Etwa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die Witalinski betreut, kommen aus Familien mit Clan-Strukturen. „Die Eltern wollen oft, dass ihre Kinder einen anderen Weg einschlagen. Sie wollen, dass ihr Kind einen guten Schulabschluss macht und keine kriminelle Karriere einschlägt“, so der Sozialarbeiter. „Kurve Kriegen“ sei kein Aussteigerprogramm, betont Witalinski, es sei eine kriminalpräventive Initiative. „Aussteigerprogramm“ klingt für ihn zu sehr nach einem Ausstieg aus der eigenen Familie. „Das will keiner“, sagt Witalinski. „Das ist auch nicht unser Ziel.“
Doch wie überzeugt man einen jungen Menschen davon, doch den mühsamen Weg einer Ausbildung oder eines Studiums einzuschlagen, wenn illegale Geschäfte doch so viel lukrativer sind? „Ich versuche den Jugendlichen einzuprägen, dass materielle Werte wie eine teure Uhr nicht denselben Stellenwert haben wie die eigene Freiheit, die Zufriedenheit, Freunde und das Wohlergehen der Familie“, so Witalinski. „Menschen in kriminellen Strukturen leben sehr unfrei, das wollen die meisten Menschen nicht.“
Teilnehmer sind im Schnitt 13 Jahre alt
Künftig sollen alle 47 Kreispolizeibehörden in Nordrhein-Westfalen „Kurve kriegen“ umsetzen, teilt das Innenministerium des Landes auf Nachfrage mit. „Es ist wissenschaftlich belegt, dass 40 Prozent der Absolventen keine Straftaten mehr begehen, bei den übrigens 60 Prozent halbieren sich die Delikte. Bei Körperverletzungsdelikten sogar um 75 Prozent“, so das Ministerium. Nur 1,5 Prozent der Absolventen wurden im Anschluss wieder so auffällig, dass sie erneut als Intensivtäter eingestuft werden: „Eine Entwicklung, die bei Aufnahme in die Initiative mit hoher Wahrscheinlichkeit prognostiziert war.“
Seit 2011 haben 2325 Mädchen und Jungen bei „Kurve kriegen“ teilgenommen, knapp über tausend haben die Initiative erfolgreich beendet. Aktuell gibt es in Nordrhein-Westfalen 706 Teilnehmenden Tendenz steigend. Im Durchschnitt sind sie knapp 13 Jahre alt und durchlaufen die Initiative für zirka zweieinhalb Jahre, 15 Prozent von ihnen sind Mädchen, 85 Prozent Jungen. Pro Teilnehmer und pro Jahr entstehen Kosten von 11.000 Euro.
Kein Folgeprojekt für junge Clan-Mitglieder
Jugendliche können bis zum 15. Lebensjahr in die Initiative aufgenommen werden. Wer mit 15 Jahren aufgenommen wird, kann auch bis ins 16. und 17. Lebensjahr betreut werden, spätestens mit 18 ist aber Schluss. Ein Folgeprogramm oder eine Initiative zum Ausstieg aus der Kriminalität für junge, volljährige Clan-Mitglieder gibt es nicht. Das Bezirksamt Neukölln in Berlin kündigte 2018 an, ein Programm für „Angehörige krimineller, ethnisch abgeschotteter Subkulturen“ zu entwickeln. Es blieb bei der Ankündigung: Auch die Hauptstadt, die ebenfalls mit den Folgen von Clan-Kriminalität kämpft, hat bis heute kein Aussteigerprogramm.
Torsten Meldau von der Polizei Duisburg zeigt sich offen für eine Initiative, die auf Intensivtäter über 18 Jahre zielt. „Natürlich wäre es schön, wenn so etwas entstehen würde“, sagt er. „Das muss man aber genau wie Kurve kriegen sehr gut planen.“