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Brandanschlag in HochhausTatverdächtiger in Ratingen tief in Verschwörungsideologien verstrickt

Lesezeit 6 Minuten
Am Tag der Explosion sind viele Einsatzkräfte der Polizei und der Feuerwehr am Tatort zu sehen. Eine Plane schirmt Blicke von außen teilweise ab.

Nach der Explosion mit 35 Verletzten in einem Ratinger Hochhaus am 11. Mai steht eine Anklage gegen den Tatverdächtigen S. ins Haus.

Die Anklage des mutmaßlichen Täters wegen neunfachen versuchten Mordes steht kurz bevor.

Thomas S. sieht den Tag X kommen, so scheint es. Auf zahlreichen Telegram-Kanälen, die S. (Name geändert) via Handy besucht, kursieren die wildesten Endzeittheorien. In der Nacht des 11. Mai surft der ehemalige Handwerker via Handy auf Hetzseiten der Querdenker- und Qanon-Szene. Auf der Plattform „Endzeit Meme’s“ ist vom „Great Reset“ die Rede. Verschwörungstheoretiker mutmaßen über einen Masterplan zum Umbau der Menschheit, ausgehend von einem vermeintlich elitären jüdischen Geheimbund. Pandemie, Klimawandel, Energiekrise – in den Augen der Anhänger dieser kruden Gedankenwelt handelt es sich um inszenierte Vorgänge, um die Menschheit zu unterjochen.

Gegen 3.30 Uhr in der Frühe wechselt S. auf den Kanal Uncut-News.ch. Hier geht es um die „totale Bevölkerungskontrolle“. Angeblich werden alle Informationen über die Menschen an zentralen Stellen gespeichert. Nur Unternehmen und Regierende sollen Zugang zum Datenpool haben, so die Erzählung. Kurz vor sechs Uhr am Morgen endet die nächtliche Chatsuche, das ergaben nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ die Ermittlungen. Am Nachmittag dieses Tages wird der Tatverdächtige S. mutmaßlich eine Katastrophe auslösen.

Ratingen: Tatverdächtiger S. zündet einen Lumpen an und wirft ihn den Einsatzkräften entgegen

Die Ermittlungen legen den folgenden Tathergang nahe. Demnach fühlte sich Thomas S. gut vorbereitet, sollte die Staatsmacht kommen. Gegen ihn lag ein Haftbefehl vor, er hatte eine Geldstrafe wegen Körperverletzung nicht bezahlt.

Zehn Stunden später: S. reagiert nicht, als Polizisten an jenem Nachmittag im Mai an seiner Wohnungstür klingeln, um ihn festzunehmen. Er hatte Wasserkisten am Eingang als Barriere aufgestapelt; die Beamten brauchen einige Zeit, um die Tür aufzubrechen. Als ein 29-jähriger Polizeikommissar und seine 25-jährige Kollegin schließlich den schmalen Flur betreten, soll S. einen benzingetränkten Lappen in der Hand gehalten haben. Er legt sich nicht hin, wie gefordert, so der Ermittlungsbericht, sondern zündet den Lumpen an und wirft ihn den Einsatzkräften entgegen.

Ein Feuerball setzt die Polizisten und folgenden Feuerwehrleute auf dem Laubengang in Flammen. Brennend stürmen die Beamten die Treppen herunter. Der Polizeikommissar, der seine lebensgefährlich verletzte Kollegin hinunterführt, verliert seine Dienstpistole am Tatort. Thomas S. verbarrikadiert sich erneut. Erst ein Spezialeinsatzkommando kann ihn festnehmen.

Hochhaus-Brand in Ratingen: Neunfacher versuchter Mord – Das Tatmotiv bleibt weiter unklar

Soweit die Erkenntnisse, laut derer der mutmaßliche Täter seither schweigt und sich auch zur Frage der Schuldfähigkeit nicht psychiatrisch begutachten lässt. Die Ermittlungen in dem Fall neigen sich inzwischen dem Ende zu. Eine Anklage wegen neunfachen versuchten Mordes steht ins Haus. Allerdings bleibt das Tatmotiv nach wie ungeklärt. Auch ist wenig über die Vita des Tatverdächtigen bekannt.

Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat Fakten zusammengetragen, die das Bild eines Abgehängten zeichnen, der immer weiter in  die Sphäre von Corona-Skeptikern, rechten Esoterikern, Verschwörungstheoretikern und Untergangsapologeten abgedriftet ist. Seine einzige Bezugsperson scheint seine Mutter gewesen zu sein. Als sie starb, könnte sein Leben endgültig aus den Fugen geraten sein. Monatelang lebte S. den Ermittlungserkenntnissen zufolge mit seiner toten Mutter in dem tristen Wohnsilo in der Berliner Straße im zehnten Stock auf zirka 60 Quadratmetern.

Tatverdächtiger bezog weiter die Rente seiner toten Mutter

Nach dem Zugriff stieß die Polizei auf die skelettierte Leiche in einem Rollstuhl. Zudem fand die Mordkommission in der mütterlichen Wohnung enorme Mengen an haltbaren Lebensmitteln wie Konserven, Nudeln und abgefülltes Wasser. Darüber hinaus wurden zahlreiche Hygieneartikel, Deo-Dosen aber auch Power Banks für den Fall eines Stromausfalles im Übermaß gehortet. Weitaus mehr, als das Amt für Bevölkerungsschutz als Notvorrat für zehn Tage empfiehlt. Bis heute ist unklar, zu welchem Zeitpunkt der Endfünfziger begonnen hat, sich zu verschanzen. Der Tod der Mutter hätte ihn den Ermittlungen zufolge seiner Einnahmequelle beraubt: der Rentenbezüge. Staatliche Hilfen soll Thomas S. in jener Zeit nicht bezogen haben.

Der Beschuldigte soll ein zurückgezogenes Leben geführt haben. Nachbarn beschreiben ihn als fürsorglich im Umgang mit der Mutter; mit dem ein oder anderen soll es aber auch Streit gegeben haben. Die Folge sind drei Geldbußen wegen Körperverletzung. Zu seinem Bruder besteht laut der Erkenntnisse kein Kontakt.

Spätestens seit 2019 bewegte S. sich demnach auf zahlreichen Telegram-Verschwörungskanälen. Sein Handy, inzwischen durch die Polizei ausgewertet, scheint ein wichtiger Link zur Außenwelt gewesen zu sein. Zu Details wollte sich die zuständige Düsseldorfer Staatsanwältin Laura Neumann nicht äußern.

Nur so viel: In der Wohnung seien Schriftstücke und Mobiltelefone sichergestellt worden, so die Behördensprecherin. „Deren Auswertung hat ergeben, dass der Beschuldigte offenbar verschiedenen sogenannten Verschwörungstheorien zugeneigt war. Eine Zuordnung zu einem bestimmten Bereich der politisch motivierten Kriminalität ist nach Einschätzung des polizeilichen Staatsschutzes aber nicht möglich.“

Mitglieder der Blue Knights, einem Motorradclub von Polizisten, sind zu sehen. Sie halten eine Flagge mit ihrem Wappen hoch.

Im Juli veranstalteten Mitglieder der Blue Knights, einem Motorradclub von Polizisten, anlässlich einer Gedenkveranstaltung eine Sternfahrt zugunsten der Opfer des Anschlags.

Allerdings deutet vieles darauf hin, dass die Verschwörungspropaganda Thomas S. stark beeinflusst hat. Das virtuelle Portfolio reicht von politischem Querdenken bis zur Diffamierung der LGBTQ-Bewegung und pauschal jeglicher demokratischer Regierungsform. Drei Jahre lang soll S. etwa auf der Seite „Flache Erde Die Erde ist flach“ gechattet haben, einer üblen Hetz-Seite.

Dort flimmerte zwei Tage vor S. mutmaßlicher Brandattacke ein Video mit folgendem Slogan über den Kanal: „Der sogenannte Staat ist gegen uns, will uns vernichten, nur ein dummer Aberglaube, eine Religion des Untergangs.“ Wahlen werden als bizarres Ritual bezeichnet, auch hier ist die Rede von vermeintlich geheimen Eliten. In einem anderen Chat namens „Schwarzes Schaf“ wird die Geschichte des Zweiten Weltkriegs perfide umgedreht zum vermeintlichen Völkermord durch die Alliierten an den Deutschen.

Abstruse Narrative, wirre Notizen und ein Zettel mit „Helene Fischer“

Thomas S. scheint überall unterwegs zu sein, wo die Erzählung möglichst abstrus ist. So soll er häufig den offiziellen Kanal des „Geistheilers Sananda“ angeklickt haben: Vor Jahren behauptete der selbsternannte „göttliche Avatar“, der im richtigen Leben Oliver Brecht heißt, im Schweizerischen Rundfunk, einen Jungen von der Epilepsie und einem Gehirntumor via Abstecher ins All befreit zu haben. Im Universum gäbe es von jedem Menschen ein zweites Ich, sagte „Sananda“ im Interview. Thomas S. scheint ein großer Fan des Geistheilers gewesen zu sein. Immer wieder folgte er jenem Mann im weißen, schnieken Anzug, der in Videos die Kugelerde als Lüge bezeichnet und die ägyptischen Pyramiden zu Fälschungen deklariert.

Tagtäglich soll Thomas S. via Handy diese Medien aufgesogen haben, stundenlang, über Jahre. Die Flut der falschen Narrative scheint ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben. Vor allem, wenn es um die Pandemie geht. In der halb ausgebrannten Wohnung fanden die Ermittler Zettel mit Sätzen wie „Covid 19 Impfung des Todes“.

Viele Notizen sind demnach orthografisch und grammatikalisch stark fehlerhaft, auf manche Einträge können sich die Strafverfolger keinen Reim machen. So steht etwa „Kindergarten“ notiert und auf einem anderen Papier der Name der Schlager-Ikone Helene Fischer. Ein Ausdruck von Hass oder Verehrung? Vor der Anklage sind viele Fragen offen, die nur der mutmaßliche Brandattentäter von Ratingen beantworten kann.