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Sarah Philipp im InterviewSPD-Chefin in NRW nach der desaströsen EU-Wahl: „Konkret um Menschen und Missstände kümmern“

Lesezeit 6 Minuten
Sarah Philipp spricht auf einer Bühne bei einer SPD-Veranstaltung.

„Die Menschen belasten die hohe Inflation, die hohen Mieten, die Probleme an Schulen und Kitas – und sie sind genervt über den Streit in der Ampel“, sagt Sarah Philipp, Co-Vorsitzende der NRW-SPD.

Sarah Philipp führt die NRW-SPD gemeinsam mit Achim Post an. Nach der Pleite bei der EU-Wahl stellt sie Forderungen in Richtung Berlin: Die SPD müsse in der Ampel ihre Kernanliegen durchsetzen.

Frau Philipp, in NRW liegt die CDU in fast allen Kommunen vor der SPD – wie erklären Sie sich das?

Sarah Philipp: Niemand war wohl im Vorfeld auf einen fulminanten SPD-Sieg eingestellt, aber das Ergebnis von 14 Prozent im Bund war natürlich außergewöhnlich schlecht – und deutlich unter dem, was wir uns erwartet haben. Wir haben an den Infoständen gemerkt, dass viele bundespolitische Themen eine Rolle gespielt haben. Die Menschen belasten die hohe Inflation, die hohen Mieten, die Probleme an Schulen und Kitas – und sie sind genervt über den Streit in der Ampel, das darf man nicht schönreden oder verschweigen. Der SPD wird derzeit zu selten zugetraut, die Probleme zu lösen. Das müssen wir ändern.

Muss sich der Landesverband NRW stärker von Berlin abgrenzen?

Als SPD-Landespitze haben wir eine sehr klare Erwartungshaltung in Richtung Bund formuliert. Das Zeichen, dass es so nicht weitergehen kann, ist von uns ganz klar gesetzt worden. Es muss jetzt in den nächsten Wochen deutlich werden, dass die SPD in der Bundesregierung die Kernanliegen unserer Partei durchsetzen kann und wir den Aufschwung organisieren. Bei den Haushaltsberatungen stehen zentrale Weichenstellungen an.

Finanzminister Christian Lindner (FDP) will bei den Sozialausgaben kürzen. Gibt es für Sie rote Linien?

Einen Haushalt mit tiefen Einschnitten wird es mit der SPD nicht geben. Wir brauchen Investitionen in die Bildung, den Wohnungsbau, in die Digitalisierung und die Infrastruktur. Wenn wir in diesen Bereichen kein zusätzliches Geld in die Hand nehmen, wird sich der Alltag der Menschen nicht spürbar verbessern. Wir streben daher eine Reform der Schuldenbremse an. Bis dahin müssen wir alle Spielräume nutzen, die uns die bisherigen Regelungen bieten.

Hat das neue Harmoniebedürfnis in der SPD Sie bislang davon abgehalten, Ihre Kritik an der Ampel deutlicher zu formulieren?

Wir haben es in NRW in den vergangenen zwölf Monaten geschafft, die Partei wieder zusammenzuführen. Das ist uns gelungen, weil wir alte Frontlinien durchbrochen haben, auch zwischen Düsseldorf und Berlin. Deshalb geben wir von hier aus keine roten Linien vor, sondern formulieren Erwartungshaltungen. NRW ist der größte Landesverband in der SPD. Wir arbeiten daran, die Dinge gemeinsam nach vorne geregelt zu bekommen. Allen ist klar: Wenn wir mit einem Sparhaushalt in das nächste Wahljahr gehen, wird die Lage für die SPD nicht besser werden.

Sie wollen, dass sich die SPD wieder stärker auf ihrer sozialen Markenkern fokussiert. War es ein Fehler, sich einen starken Öko-Anstrich zu geben?

Für mehr Klimaschutz einzutreten, ist kein Fehler. Aber grüne Themen werden natürlich eher mit den Grünen in Verbindung gebracht. Man fährt nie eine gute Ernte ein, wenn man Themen kopiert. Wir müssen wieder mehr Politik für unsere Leute machen und Lösungen finden, die den Menschen das Leben erleichtern.

Philipp: „Wir wollen den Markenkern schärfen: bezahlbares Wohnen, Kinderbetreuung, sichere Arbeitsplätze“

Was heißt das?

Die SPD steht für die Lösung der sozialen Probleme, denn da haben die Menschen eine Erwartungshaltung an uns. Es geht um bezahlbares Wohnen, Kinderbetreuung, den offenen Ganztag und um sichere Arbeitsplätze. Diesen Markenkern wollen wir wieder mehr schärfen. Gleichzeitig müssen wir unser Profil in Bereichen schärfen, mit denen wir uns in der Vergangenheit eher schwergetan haben. Die Menschen erwarten von uns klare Antworten in der Innen- und Migrationspolitik. Das sind Themen, wo man sich gerne auch intern streiten kann, bis am Ende ein gutes Paket herauskommt.

Sollte die SPD an der Ampel festhalten, auch wenn der Streit immer weitergeht?

Die Koalition ist bis Mitte 2025 gewählt und die Menschen können zurecht erwarten, dass die Ampel sich jetzt zusammenreißt, gute Politik liefert und dem Wählerauftrag nachkommt. Es wäre eine vergebene Chance, die Flinte jetzt ins Korn zu werfen.

Weil bei einer Neuwahl die CDU gewinnen würde?

Da bin ich mir gar nicht so sicher. Sollte Friedrich Merz Kanzlerkandidat der Union werden, beurteilen ihn die Menschen hinsichtlich seiner Kanzlerqualitäten und nicht nach denen eines Oppositionsführers, der sich häufig nicht unter Kontrolle hat. Kanzlerqualitäten bringt Olaf Scholz hingegen mit. Ich würde mir wünschen, dass er seinen Gestaltungsanspruch und seine hohe Kompetenz in der Öffentlichkeit häufiger stärker zur Geltung bringt. So wie am letzten Wochenende auf der Wahlkampfveranstaltung in Duisburg. Da war er sehr stark, und die Menschen konnten jedes Wort von ihm unterscheiben. Er ist derjenige, der Vertrauen schafft, die Sorgen der Menschen ernst nimmt und sich seriös um die Problemlösungen kümmert. Von Merz haben die Menschen ein anderes Bild.

„In den Stadtteilen findet das wirkliche Leben statt – da müssen wir hin“

Was halten Sie von er Idee, den populäreren Verteidigungsminister Boris Pistorius ins Rennen um die Kanzlerschaft zu schicken?

Ich schätze Pistorius sehr und bin froh, dass er Verteidigungsminister ist. Aber Personaldebatten helfen uns nicht weiter. Wir müssen uns um die Leute kümmern, die jeden Morgen mit einem Rucksack voller Probleme aus dem Haus gehen.

Woran liegt es, dass die SPD ihre Zielgruppe so schlecht erreicht?

Ich glaube, wir müssen noch intensiver mit den Menschen sprechen. Jeder SPD-Funktionär sollte kritisch hinterfragen, wofür er seine Zeit investiert. Wo laufe ich die ganze Woche rum? Das frage ich mich manchmal selbst, wenn ich auf Empfängen bin, bei denen eine Teilnahme vermeintlich wichtig ist. Mir scheint es wichtiger zu sein, dass wir das Gespräch mit den Menschen suchen, selbst auf Vereine und Initiativen zugehen und sie fragen, wo der Schuh drückt – und zwar nicht nur vor Wahlen.

In den Stadtteilen und auf der Straße findet das wirkliche Leben statt – da müssen wir hin. Die Leute müssen sehen, dass sich die SPD auch darum kümmert, konkrete Missstände zu beheben. Wenn zum Beispiel ständig Sperrmüll in den Park gekippt wird, darf man da nicht einfach vorbeigehen. Im Gegenteil. Dann braucht es Kümmerer, die dafür sorgen, dass der Müll verschwindet. Hierfür muss die SPD stehen.

Hannelore Kraft war mit einem zugewandten und emotionalen Habitus erfolgreich. Vermissen Sie ihren Politikstil?

Es war schon außergewöhnlich und beeindruckend, wie sie auf die Menschen zugehen konnte. Es ist immer hilfreich für Parteien, wenn den Personen an der Spitze die Herzen zufliegen. Andererseits haben wir jetzt einen Ministerpräsidenten, bei dem ich das alles nicht sehe und der trotzdem sehr entspannt in der Staatskanzlei sitzt.

Philipp über Ministerpräsident Wüst: „Gravierende Missstände in der Frage der Flüchtlingspolitik werden nicht mit ihm in Verbindung gebracht“

Wüst scheint derzeit fest im Sattel zu sitzen. Kein gutes Zeichen für die Arbeit der Opposition.

Er hat es bislang geschafft, dass gravierende Missstände zum Beispiel beim Offenen Ganztag oder in der Frage der Flüchtlingspolitik nicht unmittelbar mit ihm in Verbindung gebracht wurden. Das wird sich ändern, wenn die Kanzlerkandidatur in der CDU entschieden ist und sich Wüst endlich mal mit Landespolitik beschäftigen muss.

Wüst ist jemand, der wenig Fehler macht, die Rolle des Ministerpräsidenten im Scheinwerferlicht gut zu spielen weiß. Er tut so, als ob er seine Zeit als konservativer Wadenbeißer hinter sich gelassen habe. Wir haben die Aufgabe, ihn zu stellen. CDU und Grüne machen Politik für die oberen 20 bis 30 Prozent. Die Probleme der anderen 70 bis 80 Prozent lassen sie außen vor. Ihm geht es in erster Linie um die Macht, nicht um die Menschen und ums Gestalten.