Die Ermittlungen der Mordkommission in Recklinghausen und der Staatsanwaltschaft Dortmund gegen fünf beschuldigte Einsatzkräfte nähren Zweifel an der Notwehr-Annahme des Polizei-Reports.
Getöteter 16-JährigerHat der Polizist in Dortmund zu schnell geschossen?
Drei Monate nach den tödlichen Schüssen auf einen 16-jährigen senegalesischen Flüchtling bei einem Polizeieinsatz vor einer Dortmunder Jugendeinrichtung gibt es neue Erkenntnisse über den Ablauf des Polizeieinsatzes. Ein Gutachten, das Analytiker des Bundeskriminalamts (BKA) durch die Auswertung von Tonaufnahmen erstellt haben, kommt zu dem Ergebnis, dass der Sicherungsschütze, der den Einsatz mit einer Maschinenpistole decken sollte, äußerst früh geschossen hat. Nachdem zwei Beamte vergeblich einen Taser gegen den Jugendlichen eingesetzt hatten, erfolgte das erste Schussgeräusch bereits nach 0,717 Sekunden.
Die Beamten waren gerufen worden, weil der Asylbewerber gedroht hatte, sich umzubringen. Nachdem Mouhamed D. auf Ansprachen der Polzisten nicht reagiert hatte, setzten diese auf Geheiß des Dienstgruppenleiters Reizgas ein. Bei dem Jugendlichen zeigte das Pfefferspray keine Wirkung. Er erhob sich und soll mit dem Messer auf die Einsatzkräfte zugegangen sein, worauf der Taser zum Einsatz kam. Der Sicherungsschütze gab aus drei Metern Entfernung sechs Schüsse ab, von denen einer den Kopf traf. Der Senegalese verstarb kurz darauf.
Der Abstand zwischen Tasereinsatz und Schussabgabe könnte sogar noch kürzer gewesen sein
Wie der „Kölner Stadt-Anzeiger“ erfuhr, handelt es sich bei der Auswertung des zeitlichen Abstands zwischen den Geräuschen um eine maximale Schätzung. Der Abstand zwischen Tasereinsatz und Schussabgabe könnte also auch noch kürzer sein. Dies würde bedeuten, dass sich die Todesschüsse fast zeitgleich mit dem Taserangriff ereigneten.
Normalerweise lähmt das so genannte Elektroimpulsgerät das Nervensystem des Delinquenten für vier bis fünf Sekunden. Die tödlichen Schüsse fielen weitaus früher. Offenbar hatte der Schütze nicht lange abgewartet, ehe er abdrückte. Dies wäre ein weiteres Indiz für den Verdacht der Strafverfolger, dass der gesamte Einsatz mit zwölf Polizisten unverhältnismäßig ablief.
Polizei-Report legte Notwehr nahe
Der interne Polizei-Report hatte einen Akt der Notwehr nahegelegt. Die Ermittlungen der Mordkommission in Recklinghausen und der Staatsanwaltschaft Dortmund gegen fünf beschuldigte Einsatzkräfte nähren Zweifel. Allerdings scheint es schwierig zu sein, die entscheidende Frage zu klären: Wie hat Mouhamed D. das Messer gehalten, als er sich den Polizisten näherte? Richtete sich die Klinge bedrohlich gegen die Beamten oder verhielt es sich anders?
Weiter war zu erfahren, dass die Aussagen der Augenzeugen diese Frage nicht schlüssig beantworten können. Auf Anfrage wollte sich der ermittelnde Oberstaatsanwalt Christoph Dombert hierzu nicht äußern. Die Ermittlungen neigen sich offenbar dem Ende zu. Dann wird Dombert entscheiden, ob Anklage erhoben wird.
Christina Kampmann, Innenexpertin der SPD im Landtag, sagte dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, bei dem Polizeieinsatz in Dortmund scheine „fast alles aus dem Ruder gelaufen zu sein“.
Julia Höller, innenpolitische Sprecherin der Grünen, fügte hinzu, das Behördengutachten lasse den Schluss zu, „dass Taser und Maschinenpistole praktisch zeitgleich betätigt“ worden seien. „Diese neuen Informationen bestätigen, dass die Staatsanwaltschaft genau prüfen muss, wie der Einsatz strafrechtlich zu bewerten ist“, sagte Höller. Zudem sei es wichtig, dass der Polizeieinsatz auch polizeiintern aufgearbeitet werde, „um Lehren für künftige Einsätze zu ziehen.“
Auch Marc Lürbke, Innenexperte der Liberalen im Landtag, verlangt Aufklärung. Es verhärte sich der Eindruck, „dass es sich bei dem tödlichen Polizeieinsatz möglicherweise um eine fatale Kettenreaktion gehandelt haben könnte“, sagte der FDP-Politiker unserer Zeitung. Eine Reaktionszeit von 0,7 Sekunden nach dem Tasereinsatz sei „fast schon ein Reflex“.
Lürbke: „Fast schon ein Reflex"
Die Ermittlungen müssten daher jetzt zeigen, was genau der Auslöser für die Schussabgabe gewesen sei, sagte Lürbke. Möglicherweise spiele das „sehr laute Schussgeräusch“ der eingesetzten Taser eine Rolle. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) müsse jetzt umgehend sicherstellen, dass der Einsatz des Tasers „noch stärker in die grundsätzlichen taktischen Einsatztrainings der Polizei“ einfließe.
Gregor Golland, Innenexperte der CDU, betonte, bis zu einem juristischen Urteil gelte im Rechtsstaat die Unschuldsvermutung. „Generalverdächtigungen gegen unsere Polizei im Allgemeinen sind weder richtig noch hilfreich", sagte der Abgeordnete unserer Zeitung.
Nach einem Bericht von NRW-Innenminister Reul für den Innenausschuss kam es von Januar 2012 bis Oktober 2022 zu insgesamt 157 Schusswaffengebräuchen der NRW-Polizei, bei denen 33 Menschen tödlich verletzt wurden. Die Zahl der Polizeibeamten, die Opfer von Gewalt wurden, stieg im gleichen Zeitraum von 10.321 auf 18.183 an.
Ein entlastender Fakt wurde ebenfalls am Mittwoch durch den Report an den Landtag bekannt: Die Auswertung der beschlagnahmten Handys der Einsatzkräfte kam zu dem Ergebnis, dass die Beamten sich nicht via Chat-Nachrichten über das Tatgeschehen abgesprochen hatten.