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„Wüst wäre sympathischer gewesen“Wie die NRW-Parteien die Wahlergebnisse bewerten

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Heidkamp. Kreishaus. Bundestagswahl. Wolfgang Bosbach, Herbert Reul

Wolfgang Bosbach und NRW-Innenminister Herbert Reul haben den Wahlabend in Bergisch Gladbach verbracht. Reul ist mit dem Ergebnis der CDU nicht zufrieden.

Die CDU ist bei der Bundestagswahl im Bund wie auch im bevölkerungsreichsten Land Nordrhein-Westfalen stärkste Kraft geworden. Wie die NRW-Parteien den Wahlabend kommentieren.

Der Innenminister von NRW wirkt zerknirscht. „Mit dem Ergebnis können wir nicht zufrieden sein“, sagt Herbert Reul und schüttelt den Kopf. Soeben ist die erste Hochrechnung zur Bundestagswahl in den großen Saal der Kreisverwaltung von Bergisch Gladbach auf der Großleinwand übertragen worden. Da weiß er noch nicht, dass nach der dritten Hochrechnung die 30 Prozent in NRW geknackt werden. Aber am frühen Abend steht Reul an einem Partytisch und stützt sein Kinn auf die Hand. „Die Regierungsbildung wird wohl schwierig.“

Reul ist am Wahlabend nach Bergisch Gladbach gekommen, weil die NRW-CDU diesmal darauf verzichtet hatte, in der Düsseldorfer Parteizentrale eine eigene Wahlparty durchzuführen. Eine Entscheidung, die tief blicken lässt. „Hendrik will mit im Büro von Merz sitzen, wenn die ersten Pflöcke eingeschlagen werden“, hieß es vergangene Woche im Landesvorstand. „Wenn es Diskussionsbedarf gibt, kannst Du von Düsseldorf aus nicht steuernd eingreifen.“

Die CDU ist bei der Bundestagswahl nach einer Hochrechnung des WDR in Nordrhein-Westfalen deutlich vor der SPD die stärkste Kraft geworden. Die Christdemokraten kamen auf 30,1 Prozent der Stimmen und erzielten damit ein besseres Ergebnis als die Union im Bund, die mit 28,6 Prozent unter der 30-Prozentmarke blieb. Auf den Bildschirmen in Bergisch Gladbach ist Wüst dann bald zu sehen. Er steht direkt hinter Friedrich Merz, als dieser von einem „historischen Wahlabend“ spricht. „Sehr begeistert sieht der Hendrik ja nicht aus“, sagt einer mit CDU-Schal, der auf die Leinwand blickt. Der frühere NRW-Landtagsabgeordnete Rainer Deppe spricht aus, was viele denken. „Für mich wäre Wüst der sympathischere Kandidat gewesen.“

Im Kreishaus gibt es Kölsch und Brühwürstchen mit mittescharfem Senf für die Gäste. CDU-Anhänger Burkhard Dohm weiß, warum das Ergebnis der Partei nicht so gut wie erhofft ausgefallen ist. „Mindestens vier Prozent sind verloren gegangen, weil Merz in der Migrationsfrage mit der AfD gestimmt hat“, sagt er sichtlich enttäuscht. Am Nebentisch sieht man das ähnlich. „Das war eine strategische und taktische Katastrophe“, sagt ein Kommunalpolitiker. Anstatt auf das Thema Migration zu setzen, hätte man besser das Bürgergeld in den Fokus nehmen sollen. Immerhin ist ein Desaster, das Pessimisten schon auf die Union zurollen sahen, ausgeblieben - das „Szenario 27 Prozent“. Mit einem solchen Ergebnis wäre wohl der Ruf laut geworden, NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst als Verhandlungsführer in die Koalitionsgespräche zu schicken.

Bundestagswahl 2025: Mit Spannung wird nun erwartet, wie die Verhandlungsdelegation der CDU aussehen könnte

In der Landtagsfaktion löste das Ergebnis Erleichterung aus. Immerhin gebe es nun keinen Grund für eine Palastrevolte gegen Merz, sagte ein Abgeordneter. „Hendrik bleibt in Düsseldorf, das ist ja auch eine gute Nachricht.“ Gleichzeitig gewinne sein Wort an Gewicht auf Bundesebene, vor allem bei einem Dreierbündnis mit den Grünen. „Wüst weiß durch seine eigenen Erfahrungen in der Koalition mit den Grünen, wie die ticken und kann Brücken bauen. Das kann wichtig werden, wenn es im Getriebe klemmt.“

Mit Spannung wird nun erwartet, wie die Verhandlungsdelegation der CDU aussehen könnte. Meldungen, Merz wolle mit einer kleinen Runde in die Gespräche gehen, hatten in Düsseldorf für Irritationen gesorgt. „Es wäre ein Affront, wenn Hendrik nicht dabei wäre“, hieß es im Landesvorstand. Wüst sei dafür prädestiniert, zum Beispiel die Themenfelder Wirtschaft oder Migration federführend zu verhandeln.

21.02.2025, Nordrhein-Westfalen, Dortmund: Achim Post, Co-Vorsitzender der SPD Nordrhein-Westfalen, und Sarah Philipp, Co-Vorsitzende der SPD Nordrhein-Westfalen, stehen beim Wahlkampfabschluss der SPD in der Westfalenhallen auf der Bühne. Foto: Fabian Strauch/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Die SPD stürzt auf ein historisch schlechtes Ergebnis - auch in NRW

Während die CDU in NRW nicht hundertprozentig zufrieden ist, sieht sich die nordrhein-westfälische SPD im Land im gleichen Tiefflug wie auf Bundesebene. Immerhin behauptet sie sich nach den Infratest-dimap-Zahlen des WDR auf Platz zwei – allerdings mit einem historisch schlechten Ergebnis von 20,2 Prozent. Während die NRW-Parteivorsitzende Sarah Philipp in Duisburg geblieben war, meldete sich ihr Co-Vorsitzender Achim Post aus Berlin beim „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Der heutige Abend ist ein äußerst bitterer Moment für die SPD. Unsere gesamte Partei hat in den vergangenen Wochen trotz schwieriger Ausgangslage mit großem Einsatz gekämpft“, sagte Post.

Mit Blick auf die schlechten Umfrageergebnisse bezüglich der Kompetenzbeimessungen der Partei, die große Vertrauensverluste unter anderem in den Kernthemen Sozialpolitik, Vertretung der Arbeitnehmerinteressen und auch bei der Kanzlerpersonalie abbilden, sagte Post: „Unseren Mitgliedern gegenüber haben wir die Verpflichtung, diesen Tiefpunkt in einen Wendepunkt für die SPD zu verwandeln. In den kommenden Tagen und Wochen werden wir alle Entscheidungen aufarbeiten, die zu diesem Wahlergebnis geführt haben. Dass wir im Bund als drittstärkste Kraft hinter der AfD abschneiden, ist besonders schmerzlich und zeigt, dass wir vor großen Herausforderungen stehen.“

Post zeigte sich überzeugt, dass die Menschen den Streit und den Politikstil der vergangenen Monate und Jahre abgewählt hätten. Er bekräftigte die Statements, die auch von den Bundespolitikern und Kanzler Scholz am Wahlabend mit Emphase vorgetragen wurden: „Was unser Land jetzt braucht, ist eine handlungsfähige Regierung, die die großen Herausforderungen entschlossen angeht. Nach einem intensiven Wahlkampf muss es nun darum gehen, die Gesellschaft wieder zusammenzuführen und Politik für die breite Mehrheit der Menschen zu machen, anstatt für einzelne Klientele.“

NRW hat besonderes Gewicht

Im bevölkerungsreichsten Bundesland waren 12,6 Millionen Bürger aufgerufen, ihre Stimmen abzugeben. NRW hat damit ein besonderes Gewicht bei der Wahl, denn nach Angaben der Landeswahlleiterin leben dort etwa ein Fünftel aller Wahlberechtigten in Deutschland. Insgesamt stellten sich allein in NRW 697 Männer und Frauen in 64 Wahlkreisen zur Wahl.

Nicht nur CDU und SPD haben bei der Bundestagswahl nach den aktuellen Hochrechnungen besser abgeschnitten als deutschlandweit, sondern auch die Grünen mit 12,6 Prozent. Sollten sie als Partner in einer CDU-Regierung am Ende des Abends trotz der widrigen Lage gebraucht werden, empfiehlt Tim Achtermeyer, Landesvorsitzender der Grünen von NRW, einen Blick auf „sein“ Bundesland zu werfen. „In Nordrhein-Westfalen kann man sehen, dass sowohl die Bevölkerung als auch die Regierungsparteien profitieren können, wenn diejenigen, die da zusammenkommen, an der Sache arbeiten, statt Kulturkämpfe auszufechten. Da sollte auch die CSU mal nach NRW blicken, statt sich die besten Aschermittwochswitze auszudenken“, sagte Achtermeyer im Gespräch mit unserer Zeitung.

Sollten die Grünen im Bund nicht zum Zug kommen, sieht Achtermeyer vor allem die Gefahr, dass das Thema Klimaschutz, aber auch die Weiterentwicklung von Europa unter die Räder kommen könnte. „Es darf auch nicht dazu kommen, dass die FDP aus ideologischen Gründen weiter Investitionen in unsere Infrastruktur von Schultoiletten bis Brücken blockiert. Auf europäischer Ebene brauchen wir mehr Selbstbewusstsein und müssen die Europäische Union weiterentwickeln“, so Achtermeyer.

NRW-Grüne sehen in Wahlausgang „respektables“ Ergebnis

Hinter dem starken Abschneiden der Linken, die auch in NRW deutlich zugelegt haben, vermutet Achtermeyer eine Reaktion auf die Merz-Abstimmung zusammen mit der AfD. „Friedrich Merz hat damit Nichtwähler motiviert, die Linke zu wählen, die eine Zusammenarbeit mit der CDU ausschließt.“ Die Grünen dagegen seien auch zu schwierigen Konstellationen gesprächsbereit, so Achtermeyer. „Obwohl Söder, Wagenknecht und Weidel uns Grüne zum Hauptgegner erklärt haben, haben wir zwar mit einigen Schrammen, aber mit einem respektablen Ergebnis abgeschnitten.“

Was NRW betreffe, so könnten sich die Verhältnisse im Landtag nun umdrehen. Hatte bislang der grüne Juniorpartner eine Regierungsvertretung in Berlin, so säße nun die Wüst-CDU mit der Kanzlerpartei im Rücken im Landtag. „Wir haben vor dieser Bundestagswahl vertrauensvoll und konstruktiv mit der CDU im Landtag zusammengearbeitet und werden das auch nach dieser Wahl tun können.“

AfD euphorisch – noch vor der ersten Hochrechnung

Besonnenheit bei den Grünen am Wahlabend in NRW, dagegen Partylaune bei der AfD, die laut Hochrechnung in NRW mit 16,3 Prozent auf dem dritten Platz klar vor den Grünen liegt. Dort wartete man mit der Euphorie nicht einmal bis zur ersten Hochrechnung. Fast schon aufgekratzt versammelten sich Landeschef Martin Vincentz, NRW-Spitzenkandidat Kay Gottschalk und weitere Abgeordnete kurz vor 18 Uhr vor einer blauen Wand gegenüber eines Fernsehers, flankiert von einer Deutschlandfahne. Die Party hat eigentlich noch nicht begonnen hier in Gelsenkirchen, aber die AfD versank schon im Jubeltaumel.

Die Prognosen sahen die AfD zu diesem Zeitpunkt bei etwa 21 Prozent – und damit bei doppelt so vielen Stimmen wie 2021. „Nur blöd“, ruft Vincentz, „dass wir in ähnlicher Konstellation in zwei Jahren schon wieder hier stehen.“ Wenn die nächste Regierung erneut gescheitert sei. Diesen Satz werden Vincentz und Gottschalk am Abend noch öfter wiederholen.

Eine Gruppe von Männern und zwei Frauen sind auf einem Gruppenbild bei der Wahlparty zu sehen.

AfD-Wahlparty mit Kay Gottschalk und Martin Vincentz (3. und 4. v.l.)

Der blaue Balken klettert nicht ganz so hoch, wie in den Prognosen und bleibt bei 19,5 Prozent stehen, im Saal herrscht trotzdem gute Stimmung. In der nächsten Legislaturperiode werde die AfD wahrscheinlich in die Opposition gehen und dort einen Untersuchungsausschuss Corona fordern, ruft Gottschalk. Die NRW-AfD sorge dafür, dass die Partei regierungsfähig werde. Dafür müsse die CDU jedoch anschlussfähig werden. „Merz muss weg! Dann können wir über eine Koalition in zweieinhalb Jahren sprechen“, so Gottschalk. In der Pressemitteilung, die die Partei kurz darauf herausgibt, liest sich das anders. Es sei an der CDU, ob sie sich „dem Wählerwillen beugt und die AfD an der Regierung beteiligt“, wird Gottschalk da zitiert. „Wir stehen bereit, um unser Land wieder auf Vordermann zu bringen.“

Bei ihrer Wahlparty schwebt die AfD auf einem Höhenflug. Von einer Kommunalwahl in diesem Jahr, bei der alles auf blau gedreht würde, ist die Rede, von einem Ministerpräsidenten Martin Vincentz. In zwei, zweieinhalb Jahren werde die AfD den Kanzler oder die Kanzlerin stellen, ruft Gottschalk in Mikrofon, „das ist so sicher wie das Amen in der Kirche!“

Für ihre Wahlparty hatte die AfD in ein Lokal in Gelsenkirchen eingeladen – die Ortswahl ist kein Zufall: Mitten im Ruhrgebiet, in der Herzkammer der Sozialdemokratie, hoffte die Partei an diesem Abend auf ihr erstes westdeutsches Direktmandat. Vor dreieinhalb Jahren hätte man eine solche Erwartung noch als absurd abgetan. Bei der Bundestagswahl 2021 gewann der SPD-Abgeordnete Markus Töns mit mehr als 40 Prozent der Stimmen den Wahlkreis, seit 1949 war er fest in der Hand der Sozialdemokraten. Doch bei der Europawahl im letzten Sommer landete die AfD bei den Gelsenkirchener Wählern auf Platz zwei – nach der CDU, vor der SPD. Eine erste Prognose sah den AfD-Kandidaten Friedhelm Rikowski bei den Erststimmen vorne. Deutschlands ärmste Stadt rückt nach rechts.

Die AfD feiere in Gelsenkirchen, sagte Gottschalk, weil man hier die „Dysfunktionalität der letzten 30 Jahre CDU und SPD“ sehe. Rikowski, der Direktkandidat, spricht von Armut in den Stadtteilen, von Problemen durch Migration, von Müll und leerstehenden Wohnungen. Der frühere CDU-Kommunalpolitiker rechnet sich Chancen auf ein Direktmandat aus. Die nächste Woche habe er sich freigehalten für eine Fahrt nach Berlin, Büro einrichten. In den ersten ausgezählten Bezirken lag er tatsächlich vorn, später am Abend sah es jedoch nicht mehr nach einer Berlin-Tour für ihn aus: Als gegen 20 Uhr Dreiviertel der Stimmen ausgezählt waren, überragt der Balken des SPD-Kandidaten deutlich Rikowskis blauen. Gefeiert wurde trotzdem, denn nach Zweistimmen ist die AfD in Gelsenkirchen die Gewinnerin.

Stimmung bei den NRW-Linken ist „überwältigend“

Am anderen Ende des Spektrums gab es für Euphorie auch allen Grund - die Linke lag in NRW der Hochrechnung um 20 Uhr zufolge bei 8,8 Prozent, die Stimmung auch in Köln an diesem Abend „überwältigend“, wie Lea Reisner vom Kreisverband Köln im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ sagt. Mit Listenplatz drei in NRW wird sie wahrscheinlich die neue Bundestagsabgeordnete der Kölner Linken sein. Noch zu Jahresanfang habe man nicht damit gerechnet in den Bundestag einziehen zu können. Im Wahlkampf habe sich dann aber wohl bezahlt gemacht, dass man allein in Köln vorab mit 12.000 Menschen an der Haustür gesprochen und gefragt habe: „Was würden Sie ändern, wenn Sie Bundeskanzler wären?“. „Die Menschen haben da von ihren wirklichen Sorgen erzählt. Von zu hohen Mieten, steigenden Lebensmittelpreisen und größer werdender Ungerechtigkeit“, sagt Reisner. „Die Menschen haben ein starkes Bedürfnis nach einer stabilen antifaschistischen Opposition.“ Wenn man nun im Bundestag eine starke Oppositionsarbeit machen könne, dann werde das auch für die Bürgerinnen und Bürger in NRW die Lage verbessern. „Wir haben es beim Mindestlohn gezeigt. Als wir den forderten, hat man uns zunächst für verrückt erklärt. Nun haben wir den Mindestlohn. Und wir werden auch den Mietendeckel durchsetzen.“ So spricht Lea Reisner in Köln gegen 20 Uhr.

Um diese Zeit ist auch die Stimmung in Bergisch Gladbach deutlich besser. Dafür sorgt das Erscheinen der Familie Bosbach, die mit einem Jubelsturm empfangen wird. Nach den ersten Meldungen aus den Wahllokalen hat Caroline Bosbach, die als Direktkandidatin für die CDU kandierte, bei den Erststimmen mehr als 42 Prozent erzielt. Später wird sich herausstellen, dass die 35-Jährige sich unter anderem gegen FDP-Parteichef Christian Lindner durchgesetzt hat, der auf 4,9 Prozent kam. Das zeige, dass auch im Bund mehr drin gewesen wäre, sagt Wolfgang Bosbach, der seine Tochter begleitet. Der langjährige Bundestagsabgeordnete ist sich sicher: „Die Koalitionsverhandlungen werden für die CDU kein Selbstläufer.“