Im Interview spricht die frühere Ministerin über die Erkenntnisse aus der Antisemitismusstudie, ihre ersten Amtshandlungen und ihre Ziele für die Amtsperiode
Sylvia Löhrmann„Die meisten antisemitischen Menschen kennen keinen einzigen Juden“
Die frühere stellvertretende Ministerpräsidentin Sylvia Löhrmann wurde am Donnerstagmittag als neue Antisemitismusbeauftragte im Amt bestätigt. Sie folgt auf Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die das Amt 2018 erstmals übernahm und nun nach sechs Jahren abgibt. „Fast 80 Jahre nach dem Holocaust sind Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Zielscheibe von unversöhnlichem Hass“, sagte Ministerpräsident Hendrik Wüst und dankte Leutheusser-Schnarrenberger für ihre Arbeit. „Es ist unsere Pflicht und unser Auftrag, uns Antisemitismus mit aller Kraft entgegenzustellen.“ Mit Löhrmann habe eine Nachfolgerin das Amt übernommen, „die sich seit Jahren für eine lebendige Erinnerungskultur, für die Verständigung zwischen den Religionen sowie die deutsch-israelische Freundschaft engagiert“.
Der Schritt falle ihr nicht leicht, so Leutheusser-Schnarrenberger. Die mit dem Amt verbundenen Aufgaben liegen ihr „sehr am Herz und haben mich sehr erfüllt“, sagte die FDP-Politikerin und bedankte sich bei Politik, Zivilgesellschaft und den jüdischen Vereinen für die Zusammenarbeit. „Ich blicke daher, auch in diesen schweren und unsicheren Zeiten, mit Zuversicht auf die Fortschritte, die gemeinsam erzielt wurden.“ Zum 1. November übernimmt die frühere NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) das Amt.
Frau Löhrmann, Sie haben sich bereits als stellvertretende Ministerpräsidentin und als Landtagsabgeordnete gegen Antisemitismus engagiert, unter anderem in der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe. War das Amt als Antisemitismusbeauftragte ein Traum, der nun in Erfüllung geht?
Löhrmann: Nein, von einem Traumjob will ich nicht reden, diese Bezeichnung passt für mich insbesondere bei diesem Thema nicht. Das Amt ist eine Herausforderung, die ich gerne annehme, mit großem Respekt vor der Aufgabe. Wie sehr antisemitische Muster hochkochen und Anklang finden, haben wir schon während der Corona-Pandemie gesehen. Noch deutlicher und offener werden sie seit dem 7. Oktober des vergangenen Jahres artikuliert und propagiert. Das zeigt auch, wie wichtig die Bekämpfung des Antisemitismus sowohl seitens staatlicher Institutionen als auch durch eine engagierte Zivilgesellschaft ist – und die haben wir ja erfreulicherweise in Deutschland.
Das Themenfeld hat sich mit meinem Amtsantritt erweitert: Ich bin jetzt die Beauftragte zur Bekämpfung von Antisemitismus, für jüdisches Leben und Erinnerungskultur. Die Bereiche sind eng miteinander verbunden und insbesondere die Aufklärung über das größte Menschheitsverbrechen gehört für mich verstärkt in das Portfolio dazu.
Was werden Ihre ersten Amtshandlungen sein?
Nächste Woche stehen zunächst einige Termine an – die Bund-Länder-Kommission zur Bekämpfung von Antisemitismus und zum Schutz jüdischen Lebens zum Beispiel, ebenso wie einige Antrittsbesuche und das Gedenken an die Pogromnacht am 9. November. Inhaltlich kann ich an die Arbeit von Frau Leutheusser-Schnarrenberger nahtlos anknüpfen. Wichtige Grundlagen sind das Zehn-Punkte-Handlungsprogramm, das die Landesregierung nach dem 7. Oktober 2023 verabschiedet hat, und die Studie „Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft von Nordrhein-Westfalen“, die Frau Leutheusser-Schnarrenberger im September vorgestellt hat. Zu den dort benannten wichtigen Handlungsfeldern werde ich mich mit den Ministerinnen und Ministern austauschen: In welchen Bereichen müssen wir nachsteuern? Wo wollen wir neue Akzente setzen? Deshalb habe ich deutlich gemacht, dass meine Arbeit – wie bei Frau Leutheusser-Schnarrenberger - ja ehrenamtlich ausgeübt wird und die hauptamtlich Beauftragten die Ministerinnen und Minister des Kabinetts sind. Mir ist wichtig, dass die Arbeit nicht aktionistisch, sondern sachbezogen und nachhaltig gestaltet wird. Wir wollen keine Eintagsfliegen, sondern systematische und nachhaltige Arbeit in den Bildungseinrichtungen, in den Institutionen, in der Zivilgesellschaft – sichtbar im öffentlichen Raum.
„Der Judenhass zeigt sich in einer Weise, die wir uns alle nicht vorgestellt hätten“
Laut der Antisemitismus-Studie, die Sie gerade angesprochen haben, teilt jeder Vierte in Nordrhein-Westfalen antisemitische Einstellungen. Hätten Sie sich vorstellen können, dass der Anteil einmal so groß wird?
Nein, das hätte ich mir nicht vorstellen können, und das ist ein Skandal. Der Antisemitismus in Deutschland war ja nie verschwunden – das Phänomen tritt nur stärker, offener und breiter wieder auf. Wir müssen uns immer klarmachen, was das für Jüdinnen und Juden in unserem Land bedeutet: Da werden Häuser markiert, Menschen trauen sich nicht, öffentlich als Jüdinnen und Juden in Erscheinung zu treten. Die Studie sagt auch, dass fast die Hälfte der Befragten einen Schlussstrich unter die Erinnerungskultur ziehen möchte – ein erschreckendes Ergebnis. Das zeigt, wie intensiv und wichtig die Arbeit auch in der Erinnerungskultur ist.
Inwiefern beeinflusst der Krieg im Nahen Osten das Amt der Antisemitismusbeauftragten?
Der Judenhass zeigt sich in einer Weise, die wir uns alle nicht vorgestellt hätten. Das Existenzrecht Israels wird infrage gestellt, und es findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt. Da müssen wir gegenhalten und aufklären.
Ich war von 2020 bis Ende 2022 Generalsekretärin des Vereins „321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Im Festjahr wurden bundesweit 2.400 Veranstaltungen zum Thema jüdischen Leben durchgeführt, da gab es keinerlei Störfälle, und wir bekamen viele positive Rückmeldungen. Damals hatte ich die Hoffnung, dass wir durch dieses Fest vielleicht einen Schritt weiter gekommen sind im Kampf gegen Antisemitismus. Dann kam der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober, und wir fühlten uns wieder zurückgeworfen. Davon dürfen wir uns aber nicht einschüchtern lassen: Die Befunde zum Antisemitismus sind Krisensymptome für den Zustand unserer Demokratie. Allein deshalb geht die Bekämpfung von Antisemitismus uns alle an.
Sie sagten bereits, dass Sie die Arbeit von Frau Leutheusser-Schnarrenberger nahtlos fortführen wollen. Trotzdem: Welche neuen Schwerpunkte möchten Sie setzen?
Als ehemalige Lehrerin und Schulministerin ist mir der Bereich Bildung natürlich besonders wichtig. Dazu werde ich mich auch zeitnah mit Schulministerin Feller zusammensetzen. Dabei loten wir aus, welche zusätzlichen Impulse und Anregungen ich durch meine langjährigen Erfahrungen und Netzwerke mit meiner Arbeit geben kann.
Was waren Projekte und Begegnungen, die Ihnen in Ihrer Arbeit Mut machen?
Ich halte Begegnungsangebote für unglaublich wichtig. Die meisten Menschen, die antisemitische Einstellungen haben, kennen keine einzige Jüdin oder keinen einzigen Juden. Es gibt zum Beispiel das Projekt „Meet a Jew“, bei dem junge Jüdinnen und Juden Schulklassen besuchen und von jüdischem Leben berichten. Kein Kind wird ja als Antisemit oder als Rassist geboren, sie werden erst durch ihr Umfeld entsprechend geprägt. Viele Menschen wissen gar nicht, wie vielfältig jüdisches Leben ist und wie sehr Jüdinnen und Juden unser Land, die Literatur, die Kultur insgesamt und den Sport geprägt haben.
Sie wurden für die kommenden drei Jahre als Beauftragte zur Bekämpfung von Antisemitismus, für jüdisches Leben und Erinnerungskultur ernannt. Was möchten Sie erreicht haben, wenn wir in drei Jahren wieder sprechen?
Ich möchte sagen können, dass dieses Fundament, welches Frau Leutheusser-Schnarrenberger gebaut hat, weiter gestärkt ist, dass wir an verschiedenen Stellen erfolgreiche Projekte ausgeweitet und nachhaltig etabliert haben: Beispielsweise, dass sich immer mehr Schulen regelmäßig mit Antisemitismus und Erinnerungskultur beschäftigen, dass es noch mehr Begegnungs- und Kulturveranstaltungen gibt, bei denen deutlich wird, wie wichtig jüdisches Leben in unserem Land ist – und dass es selbstverständlich dazugehört.