AboAbonnieren

Exklusiv

Abschiebungen in NRW
Tausende Rückführungen scheiterten, weil Asylbewerber verschwunden sind

Lesezeit 6 Minuten
Polizeibeamte begleiten einen Afghanen zur Abschiebung in ein Charterflugzeug.

Polizeibeamte begleiten einen Afghanen zur Abschiebung in ein Charterflugzeug.

Bundesweit wird über Abschiebungen gestritten. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat einige Fakten und Zahlen zur Situation in NRW zusammengetragen.

Nach der tödlichen Messerattacke von Aschaffenburg will die Union den Bundestag kommende Woche über Vorschläge zur Verschärfung der Migrationspolitik abstimmen lassen – und dabei mögliche Mehrheiten mit der AfD in Kauf nehmen. Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) hatte für den Fall seiner Wahl zum Kanzler deutlich mehr Abschiebungen und an allen Grenzen ein „faktisches Einreiseverbot“ versprochen. Und die Diskussion hat längst auch NRW erreicht.

Kontrollen an den deutschen Grenzen und Zurückweisungen aller illegal Einreisenden sind auch aus Sicht von Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (CDU) vertretbar. In der Frage von Abschiebungen habe die Politik „in den letzten Jahren geschlafen und wichtige Maßnahmen nicht angepackt“, sagte der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) jüngst. Es fehle beispielsweise an ausreichenden Abkommen mit anderen Ländern, zudem gebe es einen „zu sensiblen Umgang mit ausreisepflichtigen Personen“. Meist sei darüber gesprochen worden, was nicht geht. „Wir müssen aber darüber reden, was geht und wie weit wir gehen können“, so der Innenminister.

51.972 Asylbewerber sind in NRW ausreisepflichtig

Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat einige Fakten und Zahlen zur Situation in Nordrhein-Westfalen gesammelt. Laut Ausländerzentralregister waren zum Stichtag 31.12.2024 insgesamt 51.972 Personen in Nordrhein-Westfalen ausreisepflichtig. Die überwiegende Mehrheit (43.241 Personen) jedoch besaß eine Duldung. Es gibt zahlreiche verschiedene Gründe, weshalb jemand nicht abgeschoben werden darf oder kann. Dazu zählt beispielsweise eine laufende Ausbildung oder eine „Beschäftigungsduldung“, wenn die Menschen also als Arbeitskräfte in Deutschland benötigt werden. Auch gesundheitliche Probleme der Betroffenen können eine Rolle spielen.

Oft aber fehlen schlichtweg die notwendigen Pässe der Herkunftsländer, die ihre Landsleute nicht zurücknehmen wollen. Bei etwa 3000 Ausreisepflichtigen konnte deshalb bisher noch nicht einmal deren Identität geklärt werden.

4440 Abschiebungen aus NRW im vergangenen Jahr

Die Zahl der Abschiebungen ist seit 2022 kontinuierlich gestiegen. Im vergangenen Jahr gab es nach Angaben des Düsseldorfer Fluchtministeriums mit 4440 Rückführungen und Überstellungen an andere für die Asylverfahren eigentlich zuständige EU-Länder rund 21 Prozent mehr als 2023 (3663).

Zu den fünf häufigsten Zielstaaten zählten laut Bundespolizei-Statistik Albanien (419), Nordmazedonien (408), Serbien (331), Georgien (261) und Frankreich (238). Im Jahr 2022 waren 3118 Rückführungen registriert worden. Gut jede fünfte der bundesweiten Ausreisen und Rückführungen des vergangenen Jahres entfiel auf NRW.

1560 mehrfach straffällig gewordene Antragsteller konnten seit 2018 abgeschoben werden

In den vergangenen Jahren haben wir eine Reihe von Maßnahmen umgesetzt, um diejenigen konsequent rückzuführen, die keine Bleibeperspektive im Land haben“, erklärte NRW-Fluchtministerin Josefine Paul (Grüne) die Entwicklung. Dazu zähle die kontinuierliche Stärkung der fünf zentralen Ausländerbehörden des Landes. Ein wichtiges Ziel der nordrhein-westfälischen Landesregierung sei „die konsequente und prioritäre Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen bei straffälligen ausländischen Staatsangehörigen“, ergänzte eine Sprecherin des Ministeriums. Deshalb sei bereits im Jahr 2018 ein sogenanntes „Fallmanagement NRW eingerichtet“ worden.

Die dazu geschaffenen fünf „Rückkehrkoordinationsstellen“ hätten „gezielt aufenthaltsrechtliche Verfahren und gegebenenfalls aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei ausländischen strafrechtlich auffälligen Personen, aber auch bei ausländischen Personen mit erheblich negativem Sozialverhalten“ eingeleitet. Mit Stand 31. Dezember 2024 seien insgesamt 3334 dieser Personen „durch Fallkonferenzen“ begleitet worden, 1560 davon konnten abgeschoben werden, so die Sprecherin.

118 islamistische Gefährder wurden von NRW in ihre Herkunftsländer zurückgeführt

Die „sonstigen Abschiebungen“ durch örtliche Ausländerbehörden in NRW seien zwar nicht erfasst worden. Aber auch eine Reihe „sicherheitsrelevante Personen“ wie etwa islamistische Gefährder, denen schwerste Gewalttaten zugetraut wurden, hätten das Land verlassen. Seit 2018 seien 118 dieser Personen „zurückgeführt“ worden, fünf seien „freiwillig überwacht ausgereist“, listete die Sprecherin auf.

Dennoch gab es auch zahlreiche gescheiterte Abschiebungen, vor allem nach Syrien, Afghanistan und den Irak. Im vergangenen Jahr sei das bis zum Stichtag 30. November bei insgesamt 4086 „Rückführungsflügen“ der Fall gewesen, heißt es in der Statistik der Zentralen Fluganmeldestelle. Eine genauere Auswertung der Fälle wurde dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vom NRW-Fluchtministerium zwar nicht zur Verfügung gestellt. Eine vor einem Jahr erstellte Analyse aber zeigt die Probleme klar auf.

4086 geplante Rückführungen sind im Jahr 2024 gescheitert

Der mit weitem Vorsprung am häufigsten genannte Grund für die Pleiten war demnach, dass die Ausreisepflichtigen schlichtweg nicht mehr an ihrem gemeldeten Wohnort waren, als die Polizei sie abholen wollte. Von diesen 1877 Personen wurden 511 sogar schon als „untergetaucht“ eingestuft. Von 178 Ausreisepflichtigen, die letztlich doch ausfindig gemacht werden konnten, sei der Widerstand so massiv gewesen, dass man sie nicht in ein Flugzeug setzen konnte.

Die Hilflosigkeit der Behörden gegenüber kriminellen Asylbewerbern, die ihre Identität meist verschleiern, wirft Schlaglichter auf Mängel im nordrhein-westfälischen Abschiebe-System. Ein Beispiel für die Überforderung der hiesigen Behörden ist Hassan N., der im Oktober vergangenen Jahres versucht hat, ein von fast 90 Menschen besuchtes Kino in der Krefelder Innenstadt anzuzünden.

Der Mann verfügte über 27 Identitäten, wie sich nach der Tat herausstellte. 2002 war er erstmals nach Deutschland eingereist. N. soll sich aber auch in Belgien, Frankreich, den Niederlanden und Spanien aufgehalten haben. Asyl beantragte er dem Vernehmen nach in Deutschland, Dänemark, Norwegen, Schweden, der Schweiz und Österreich. 2008 wurde der Mann, der vermutlich aus dem Iran stammt, den Ausländerbehörden in Krefeld zugeteilt.

Ausreisepflichtiger Asylbewerber wollte Kino in Krefeld anzünden

N. füllte schnell schon Strafakten bei Justiz und Polizei. Am 5. Juli 2010 wurde er durch das Landgericht Krefeld zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. In der Anklage ging es um Vergewaltigung, gefährliche Körperverletzung, Sachbeschädigung sowie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Bedrohungen und Beleidigungen. Aus der Haft entlassen, verschwand der Mann, vermutlich in Frankreich. Erst zehn Jahre später, im April 2024, tauchte er erneut in Krefeld auf. Und die Franzosen lehnten ein „Rückübernahmeersuchen“ der deutschen Ausländerbehörde ohne Begründung ab.

Eine Mitteilung des NRW-Fluchtministeriums an den Landtag liest sich schließlich wie ein finaler Offenbarungseid. Unterstellt, die „Person“ stamme tatsächlich aus dem Iran, mache die Situation noch aussichtsloser. Die iranischen Behörden würden für die Ausstellung der notwendigen Dokumente Einreisedokumente schließlich eine „Freiwilligkeitserklärung“ der Betroffenen verlangen. N. aber habe dieses Papier, wie üblich in solchen Fällen, einfach nicht unterschrieben.

Wie so oft, appellierte NRW-Fluchtministerin Josefine Paul auch in solchen Zusammenhängen an den Bund. Neben den humanitären Gründen spiele in vielen Fällen die fehlende Kooperationsbereitschaft von Herkunftsländern bei der Rückübernahme ihrer Staatsangehörigen eine entscheidende Rolle, so Paul: „Hier bleibt die Bundesregierung gefordert, mit relevanten Zielstaaten stabile und praxiswirksame Rahmenbedingungen zu erreichen.“

Aber auch „im Bereich der Dublin-Überstellungen“ dürfe es „keine Schnittstellenprobleme mehr geben“. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), sei für das Verfahren zuständig „und es wäre nur richtig und konsequent, wenn der Bund auch die Dublin-Rückführungen übernimmt“, betonte die Ministerin gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Kurze Fristen und teilweise unkooperative Bedingungen unserer europäischen Partner sind zusätzliche Herausforderungen, die aus einer Hand angegangen werden sollten.“