Werkstätten erwirtschaften Millionen durch die Arbeitskraft von Menschen mit Behinderung. Warum die faire Bezahlung ausbleibt.
Bezahlung in Behinderten-Werkstätten„Ich fühle mich ausgebeutet“ – Dirk Hähnel hat für 1,35 Euro Monitore repariert
Die Tätigkeit war vergleichsweise komplex. Dirk Hähnel und seine Kollegen hatten die Aufgabe, gebrauchte Computermonitore zu überprüfen, zu reparieren und für den Austausch aufzubereiten. „Manchmal waren Blenden zu wechseln, oft mussten wir an der großen Platine löten“, erzählt der 50-Jährige. Zum Schluss wurde getestet, ob die Farben in Ordnung waren. „Manchmal haben wir mehr als 20 Geräte am Tag fertigbekommen“, sagt Hähnel im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Und: „Ich habe einen Stundenlohn von 1,35 Euro bekommen.“
Der Mann, der mit seiner Mutter in Duisburg lebt, lebt mit Epilepsie. Er hat die Krankheit gut im Griff. Als Kind ging er auf eine Förderschule. Danach wechselte er in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen in seinem Heimatort in Ostwestfalen. „Ich hätte lieber einen richtigen Job gemacht, mit einer vernünftigen Bezahlung“, berichtet Dirk Hähnel. „Aber der Jobvermittler vom Arbeitsamt meinte, das käme für mich nicht in Frage.“
764 Millionen Euro erwirtschaftet
In NRW arbeiten rund 72.000 Männer und Frauen in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Eine Studie des Bundesarbeitsministeriums von 2023 kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Betroffenen dort gut aufgehoben fühlen. Aber immerhin 21,2 Prozent würden lieber einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachgehen – so wie Dirk Hähnel. „Ich fühle mich ausgebeutet“, sagt er und schüttelt verärgert den Kopf. „Die, die wegwollen, können meist gut arbeiten. Deswegen wollen die Werkstätten die auch nicht gehen lassen.“
Die Beschäftigten in den Wertstätten haben überwiegend kognitive beziehungsweise geistige Beeinträchtigungen. Der gesetzliche Auftrag der Einrichtungen lautet, Menschen in den sozialversicherungspflichtigen Arbeitsmarkt zu vermitteln. Aber gerade mal 0,6 Prozent schaffen den Weg aus der Werkstatt.
Bezahlung weit unter dem Mindestlohn widerspricht der UN-Konvention für Behindertenrechte
„Wir brauchen einen Ausstiegsplan aus diesem System“, sagt Dennis Sonne, Sprecher für Inklusion und Behindertenpolitik der Grünen im Düsseldorfer Landtag. „Damit meine ich nicht, dass man alle Werkstätten abschaffen muss. Aber das System muss gerecht und menschenrechtskonform verändert werden.“ Sonderwelten, in denen Gehälter weit unter dem Mindestlohn gezahlt würden, seien mit der UN-Behindertenrechtskonvention nicht vereinbar.
Nach einem Bericht des Landschaftsverbands Rheinland wurden in rheinischen Werkstätten für Menschen mit Behinderung im Jahr 2022 Erträge in Höhe von 764 Millionen Euro erwirtschaftet – demgegenüber standen Kosten von 676 Millionen Euro. 81 Millionen Euro wurden als Arbeitsentgelte ausgezahlt, das sind 92 Prozent des erwirtschafteten Gesamtergebnisses von 88 Millionen Euro. Die restlichen Überschüsse sollen für gemeinnützige Ziele verwendet werden.
Pia Stapel ist die Vorsitzende der Konferenz der Caritas-Werkstätten für Menschen mit Behinderung in Niedersachsen und NRW. Sie betont: Werkstatt-Beschäftigte stehen grundsätzlich in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis. „Arbeitnehmerähnlich bedeutet, dass sie rechtlich gesehen keine Arbeitnehmer sind und deswegen keinen Anspruch auf den gesetzlich festgelegten Mindestlohn haben. Das ist vom Bundesgesetzgeber so bislang gewollt“, sagte Stapel dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Durchschnittsgehalt in NRW: 211 Euro im Monat
Das Entgelt setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Grundlohn und Steigerungsbetrag. Der Grundlohn ist ein gesetzlich festgelegter Betrag in Höhe von derzeit 126 Euro. Der Steigerungsbetrag wird für jeden Beschäftigten individuell festgelegt und hängt von Faktoren wie Leistungsfähigkeit und Komplexität der Aufgaben ab. Das Durchschnittsgehalt liegt in NRW bei 211 Euro im Monat.
„Die meisten Werkstattbeschäftigten erhalten zusätzlich eine Erwerbsminderungs-, Erwerbsunfähigkeitsrente oder Grundsicherung. Es erfolgt zudem ein sogenannter Nachteilsausgleich, der ihnen die Möglichkeit gibt, bereits nach 20 Jahren Beschäftigung Erwerbsminderungsrente zu beantragen, wenn sie dies wollen“, so Stapel.
Fairness und Bezahlung in Werkstätten für Menschen mit Behinderung ist ein sensibles Thema. „Dass der gegenwärtige Zustand nicht zufriedenstellend ist, steht außer Frage“, sagte Christian Woltering, Vorstand des Paritätischen NRW, dem Spitzenverband der freien Wohlfahrtpflege, unserer Zeitung.
Befürworter des Status Quo betonten den rehabilitativen Charakter der Werkstätten und die umfangreiche Betreuung und Förderung, die über die reine Bezahlung hinausgehe. „Zu Recht fordern aber Werkstattbeschäftigte seit Jahren mehr Geld für ihre Tätigkeit. Denn ein Unterhalt sicherndes Einkommen ist menschenrechtlich geboten und zudem Zeichen der Anerkennung für die Arbeitstätigkeit“, so Woltering. Eine Neuregelung dürfe aber nicht zu einer schlechteren Situation der Beschäftigten in Bezug auf die Höhe ihrer Rentenansprüche führen. Da die Werkstätten in der Regel nicht in der Lage seien, den Mindestlohn zu erwirtschaften, wäre eine deutliche Subventionierung durch die öffentliche Hand erforderlich.
Alternativen zu Werkstätten stärken
In Zeiten knapper Kassen stehen höhere Löhne für die Werkstatt-Mitarbeiter derzeit nicht auf der Agenda der Bundesregierung. Dennis Sonne setzt sich dafür ein, Alternativen zu Werkstätten zu stärken. „Der Fachkräftemangel zwingt uns, als Gesellschaft den inklusiven Arbeitsmarkt mehr in den Blick zu nehmen und ich weiß, was einige der Beschäftigten in den Werkstätten leisten können“, so der Landtagsabgeordnete. Das aktuelle Werkstatt-System werde getragen von produktionsstarken Beschäftigten: „Auf diese sind die jeweiligen Einrichtungen angewiesen und es darf nicht sein, dass Menschen wie Herr Hähnel für ihre Arbeitsleistung lediglich 1,35 Euro Stundenlohn erhalten.“
Gemeinsam mit seiner Mitstreiterin Petra Loose führt Dirk Hähnel Betroffene, die mit dem Gesamtsystem der Werkstätten für Menschen mit Behinderung unzufrieden sind, in den sozialen Netzwerken zusammen. Ihre Gemeinschaft „uLPeDi“ (das steht für „unser Leben Petra und Dirk“) hat bei Facebook bereits mehr als 1800 Follower. „Auch dort informieren wir die Öffentlichkeit in Eigeninitiative über die ungerechte Behandlung in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung – und was wir gemeinsam dagegen tun möchten."
Hähnel gelang es, mit seinem Umzug an den Niederrhein aus dem Werkstattsystem auszusteigen. Er verdiente einige Jahre unter anderem als Hausmeister sein Geld. Mittlerweile erhält er eine Erwerbsminderungsrente.