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Fünf SchreckensszenarienPlant Wladimir Putin eine böse Überraschung im Oktober?

Lesezeit 7 Minuten
Russian President Vladimir Putin attends the International Forum "The Interconnection of Times and Civilizations – the basis of peace and development" dedicated to the 300th anniversary of the birth of the outstanding Turkmen poet and thinker Magtymguly Fragi in Ashgabat, Turkmenistan, Friday, Oct. 11, 2024. (Gavriil Grigorov, Sputnik, Kremlin Pool Photo via AP)

Staatschef unter Spannung: Russlands Präsident Wladimir Putin am 10. Oktober 2024 bei einem Besuch im Rudnewo-Industriepark in Moskau.

Westliche Geheimdienstler sehen Wladimir Putin in einem „ungewöhnlichen Spannungs­zustand“. Der Kriegsherr wolle den Westen womöglich noch vor der US-Präsidentschafts­wahl erschrecken.

Was plant Wladimir Putin? Arbeitet er gerade auf eine furchtbare Eskalation in der Ukraine hin? Oder im Nahen Osten? Oder an beiden Stellen gleichzeitig? Und warum um alles in der Welt erlaubt sich Russland in letzter Zeit immer mehr direkte Aktionen im Westen: Cyberattacken, Mord­komplotte, physische Sabotageakte?

Über diese bangen Fragen läuft derzeit in den 32 Nato-Staaten eine intensive Debatte – allerdings abseits der Öffentlichkeit. Die beteiligten Beamten, Uniform­träger und Parlamentarier reden über Putin, auch das gehört zum Ernst der Zeitenwende, mittlerweile am liebsten in abhörsicheren Räumen.

„Putin musste viel einstecken in letzter Zeit“

Nach allem, was indirekt berichtet wird aus der Community, sind die Diskussionen derzeit „ein bisschen nervöser als üblich“. Zwar gebe es kein einheitliches Meinungsbild über die zu erwartenden kommenden Dinge, übereinstimmend aber ist von einem „ungewöhnlichen Spannungs­zustand“ die Rede, der sich in Kürze krachend entladen könnte.

Putin, heißt es, habe viel einstecken müssen in letzter Zeit. China behandele Russland herablassend wie eine neue Rohstoff­kolonie. Indien habe über Dritte heimlich Munition nach Kiew geliefert. Und die Türkei verlange neuerdings deutlicher denn je die Rückgabe der Krim an die Ukraine. Ein diplomatischer Welterfolg Moskaus sähe anders aus.

Noch bitterer sei Putins Bilanz im Militärischen. Das von ihm erzwungene russische Vorrücken bei Pokrowsk habe der Kriegsherr mit haarsträubenden Verlusten an Menschen und Material bezahlt.

Russian President Vladimir Putin attends a meeting with Belarus President at the Kremlin in Moscow on October 9, 2024. (Photo by SERGEI ILNITSKY / POOL / AFP)

Inzwischen ist in russischen Netzwerken von einer neuen Deadline die Rede: Mitte Oktober.

Putins aktuell größte Blamage aber bleibt der Einmarsch der Ukraine in die russische Region Kursk. Erst konnten die russischen Truppen dort nicht verhindern, dass die Ukrainer ihnen mal eben die Kontrolle über 1300 Quadratkilometer entwanden. Dann schafften die Russen es auch nicht, eine von Moskau verkündete Deadline zur Rückeroberung des Gebiets einzuhalten: Der 1. Oktober verstrich ohne Anzeichen dafür, dass die Ukraine sich bald zurückzieht.

Sehen die Dienste Gespenster?

Inzwischen ist in russischen Netzwerken von einer neuen Deadline die Rede: Mitte Oktober. Was aber soll dann genau geschehen? Fest steht nur eins: Putin steht unter nie da gewesenem Druck. Führende Köpfe in den westlichen Diensten rechnen deshalb mit etwas Ungewöhnlichem, etwas Disruptivem, einer Oktober-Überraschung ganz eigener Art.

Amerikanische Politik­wissenschaftler beschreiben seit Jahrzehnten mit dem Begriff „October surprise“ die oft überraschenden Wendungen des Geschehens wenige Wochen vor den US-Präsidentschafts­wahlen, die alle vier Jahre am ersten Dienstag im November stattfinden. Im Wahljahr 2024 könnte eine noch dramatischer als bisher auflodernde internationale Krisenkulisse die regierenden Demokraten in Washington schlecht aussehen lassen – und Donald Trump und seinen Republikanern zum Wahlsieg verhelfen.

Die Liste böser Taten, die dem russischen Staatschef aktuell zugetraut werden, ist verblüffend lang und divers. Liegt das, wie manche meinen, an einer überschießenden Fantasie westlicher Dienste, die inzwischen vielleicht schon Gespenster sehen?

„Nein“, sagt Nico Lange, Senior Fellow bei der Münchner Sicherheits­konferenz und ehemaliger Planungschef im Bundes­verteidigungs­ministerium. „Putin selbst hat sich sehr bewusst ein großes Repertoire von Optionen verschafft, mit denen er jetzt agieren kann. Das reicht von der Manipulation sozialer Medien in den USA über das Anheuern jugendlicher europäischer Kleinkrimineller für einen Brandanschlag irgendwo in Europa bis zur demonstrativen Vernichtung westlicher Satelliten im Weltall.“

Ähnlich klingen die Bewertungen von Fachleuten aus anderen Nato-Staaten. Putin, so heißt es, habe nach dem Einmarsch in die Ukraine und dem Hamas-Überfall auf Israel ein Interesse daran, die westliche Welt abermals zu erschrecken, „diesmal vielleicht auf ganz neue Art“.

Wenn russische Forschungsschiffe lange tuckern

Dem Kriegsherrn im Kreml, sagt ein Geheimdienst­chef aus dem Baltikum, der einen kleinen Kreis deutscher Journalisten in Berlin physisch um sich versammelte, gehe es nicht um diese oder jene konkrete Drohung, Terroraktion oder gar Kriegs­handlung. Entscheidend seien aus russischer Sicht die sogenannten „Second-Order-Effekte“: ökonomische, politische und psychologische Folge­wirkungen der Einflussnahme auf die westlichen Gesellschaften. Das klassische Ziel des gelernten KGB-Offiziers Putin bleibe etwas, das in Zeiten Stalins als Zersetzung bezeichnet wurde. Der Westen solle durcheinander­geraten, die eigenen Regierungen infrage stellen, sich in Furcht vor Moskau fügen – und den Wehrwillen sinken lassen.

Die Nervosität der westlichen Dienste wäre geringer, wenn es in letzter Zeit keine provokative Häufung verdächtiger Aktivitäten quer durch Europa gegeben hätte. Doch Putins Leute sind aktiver denn je. Cyberattacken russischen Ursprungs auf militärische und zivile Netze im Westen werden immer zahlreicher und immer aggressiver. Parallel dazu kommt es zu teilweise kuriosen Aktionen weiterer Art: Mal durchtrennen Unbekannte nächtens die Stromleitungen zu abgelegenen militärischen Nato-Horchposten in der nördlichen Ostsee. Mal tuckern russische Forschungs­schiffe auffällig lange und langsam über transatlantischen Kommunikations­kabeln hin und her.

Der Nordatlantikrat der Nato hat eindeutig erklärt, dass jeder vorsätzliche Angriff auf die kritischen Infrastrukturen der Nato-Staaten mit einer gemeinsamen und entschlossenen Reaktion beantwortet wird.
Nato-Sprecherin Farah Dakhlallah

Nach einer Phase der Zurückhaltung nennt das Nato-Hauptquartier inzwischen ganz offiziell Ross und Reiter. „Russland ist für eine Reihe von Sabotage- und Cyber­operationen in ganz Europa verantwortlich“, erklärt Nato-Sprecherin Farah Dakhlallah gegenüber dem Redaktions­Netzwerk Deutschland. Seit Beginn des russischen Kriegs in der Ukraine habe „die Bedrohung für die unterseeische Infrastruktur, einschließlich Öl- und Gaspipelines sowie Datenkabel, zugenommen“. Die Britin lässt auch ihrerseits etwas Drohendes mitschwingen: „Der Nordatlantikrat der Nato hat eindeutig erklärt, dass jeder vorsätzliche Angriff auf die kritischen Infrastrukturen der Nato-Staaten mit einer gemeinsamen und entschlossenen Reaktion beantwortet wird.“

MI5: Russland will „Chaos auf den Straßen Europas“

Unter der Hand allerdings räumen Experten ein, dass es der Allianz im Einzelfall noch schwerfallen dürfte, eine erstens gemeinsame und zweitens auch überzeugende Reaktion hinzubekommen. Dies gilt bereits im ersten von fünf Szenarien, die derzeit in den internen Debatten des Bündnisses eine Rolle spielen.

Russische Drohnen über Nato-Staaten: Aus Putins Sicht könnten sich Provokationen durch Drohnen dazu eignen, in der Allianz Zwist zu säen. Im September verletzten russische Drohnen bereits den Luftraum von Rumänien und Lettland. Weil so etwas nicht zum ersten Mal geschah, setzt sich jetzt die Staatengruppe „Bukarest 9″ (Rumänien, Bulgarien, Polen, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Slowakei, Ungarn) innerhalb der Nato für eine härtere Gangart gegenüber Russland ein. Dies würde auf den Abschuss russischer Drohnen durch gemeinsame Flugabwehr­systeme hinauslaufen – könnte aber auch die Gefahr einer Konfrontation zwischen Nato und Russland erhöhen.

Der langjährige Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg überließ eine politische Regelung seinem Nachfolger Mark Rutte, dem er angeblich nicht noch kurz vor dem Stabwechsel am 1. Oktober Vorgaben hinterlassen wollte. Das klingt sehr freundlich – Kritiker sprechen indessen von einem eleganten Ausweich­manöver Stoltenbergs. Das Thema jedenfalls rangiert weit oben auf der Tagesordnung der kommenden Nato-Spitzen­begegnungen im Oktober und könnte zu einer ersten Bewährungs­probe für die Integrations­kraft Ruttes werden.

Islamistischer Terror: Es läge im Interesse Putins, wenn erneut eine Welle des Terrors die westliche Welt erschüttern würde. Bekenntnis­schreiben könnten auf die Unterstützung westlicher Staaten für Israel deuten – und damit den Streit in den Demokratien befeuern. Bei der Ausführung der Anschläge könnten Gruppen helfen, die vom Iran unterstützt werden, einem Verbündeten Russlands, der im Nahen Osten gleich über mehrere Terrorgruppen gebietet, darunter die Hamas in Gaza, die Hisbollah im Libanon und Huthi im Jemen.

Der britische Geheimdienst MI5 sieht Anzeichen dafür, dass Russland genau diesen Weg bereits eingeschlagen hat: „Der russische Geheimdienst arbeitet daran, anhaltendes Chaos auf den Straßen Großbritanniens und Europas zu stiften“, sagte MI5-Direktor Ken McCallum in dieser Woche bei Vorlage eines Berichts zur Sicherheitslage.

Eskalation mit Chemiewaffen: Schon im Mai hantierten Putins Truppen in der Ukraine nach amerikanischen und britischen Erkenntnissen mit dem Lungen­kampfstoff Chloropicrin. Eine Eskalation dieser Art im Kampf gegen die Soldaten von Präsident Wolodymyr Selenskyj wäre zwar ein weiterer Verstoß gegen das Völkerrecht, würde aber ebenso Angst und Schrecken in der Ukraine verbreiten und darüber hinaus wie ein Test mit sogenannten taktischen Atombomben wirken.

Störung westlicher Kommunikation: Die Aktivitäten russischer Schiffe in der Umgebung transatlantischer Seekabel ließen in jüngster Zeit die Sorge um Internet­verbindungen zwischen EU und USA wachsen. Sollte es Putin gelingen, auch noch die Satelliten­kommunikation zu stören, und sei es nur vorübergehend, wäre nach Einschätzung von Experten vor allem der psychologische Effekt auf die westlichen Gesellschaften viel stärker als bisher angenommen.

Einmischung in Moldau und Georgien: Am 20. Oktober finden in Moldau, am 26. Oktober in Georgien schicksalhafte Wahlen statt. In beiden Ländern geht es darum, ob ein Demokratisierungs­kurs fortgesetzt wird, der am Ende auch in Richtung Europäische Union führt.

In beiden Ländern laufen zugleich massive Desinformations­kampagnen Russlands mit dem Ziel, den Weg nach Westen zu bremsen. Dazu tragen von Moskau unterstützte Pro-Putin-Parteien bei, die ihren Anhängern Geld für ihre Stimmen zahlen und ihre Gegner physisch bedrohen.

Russland-Kenner glauben, Putin werde in beiden Staaten das von ihm erwünschte Ergebnis erzwingen – und einen Sieg der Moskau-Freunde als seinen neuen persönlichen Erfolg ausgeben. „Es würde Putin ähnlich sehen“, sagt einer, der den Weg des russischen Präsidenten seit Langem genau verfolgt. „Wenn es anderswo nicht gut läuft für ihn, wechselt er auf einmal in ein völlig anderes Feld – und erklärt sich dort zum Sieger.“