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Aufregung um AntisemitismusSicherheitsvorkehrungen und viele Fragen beim Prozess gegen Gil Ofarim

Lesezeit 8 Minuten
Der Sänger Gil Ofarim gibt ein Interview.

Der Sänger Gil Ofarim muss sich vor dem Landgericht unter anderem wegen des Vorwurfs der falschen Verdächtigung und der Verleumdung verantworten, nachdem er vor gut zwei Jahren einen Hotel­mitarbeiter des Antisemitismus beschuldigt hatte.

Der Sänger hatte vor gut zwei Jahren einen Hotel­mitarbeiter des Antisemitismus beschuldigt.

Es ist ruhig geworden um den Sänger Gil Ofarim. Keine Konzerte, keine Auftritte in Fernseh­sendungen, selten mal ein Interview – selbst auf seinem sonst regelmäßig bespielten Instagram-Account postete Ofarim zuletzt nur ab und zu mal ein Foto für seine 115.000 Follower.

Ofarim mit wehendem Haar auf der Sanddüne, Ofarim mit geschlossenen Augen vor einem Bergsee – auf dem Bild sieht der Sänger aus, als würde er tief einatmen, als müsste er sich rüsten für den Moment, in dem sich wieder Fernseh­kameras auf ihn richten, er in jeder großen Tageszeitung zu sehen ist – und das weltweit.

Ofarim steht wegen Verleumdung vor Gericht

Wenn Ofarim am 7. November zum ersten Mal wieder öffentlich auftritt, dann tut er das nicht auf einer Bühne, sondern im Saal 115 des Landgerichts Leipzig. Als Angeklagter in einem Verfahren, das durch den Krieg im Nahen Osten und die zunehmenden Anfeindungen gegen Juden nicht gerade einfacher geworden ist.

Denn Ofarim soll gelogen haben, als er behauptete, Opfer eines antisemitischen Vorfalls geworden zu sein. Die Staatsanwaltschaft Leipzig wirft dem Sänger falsche Verdächtigung in zwei Fällen vor, einmal in Tateinheit mit Verleumdung. Zum Prozess­auftakt haben 85 Zuschauer und Zuschauerinnen Platz im Saal, mehr als die Hälfte davon werden Journalistinnen und Journalisten sein.

Verfahren stößt durch Krieg im Nahen Osten auf großes Interesse

Dass das Verfahren auf ein solches Interesse stößt, liegt nicht nur an der aktuellen Weltlage oder einer gewissen Prominenz Ofarims – sondern auch an der Rolle, die Medien und Politiker von Anfang in dem Fall gespielt haben.

Alles beginnt mit einem Video. Es ist der Abend des 4. Oktober 2021. Gil Ofarim sitzt auf einem Bordstein und filmt sich mit der Kamera seines Handys. In der Aufnahme, die Ofarim später bei Instagram hochlädt, spricht er stockend. Immer wieder fährt er sich mit der Hand durch das blonde Haar. „Ich bin sprachlos“, sagt Ofarim. „Ich wurde in der Vergangenheit immer wieder gefragt zum Thema Antisemitismus in Deutschland.“ Die Kamera schwenkt kurz auf das Emblem des Gebäudes hinter Ofarim, dort wo die Aufschrift des Hotels The Westin zu sehen ist.

Ofarim beschuldigt Hotelmitarbeiter antisemitischer Äußerungen

Dann erzählt Ofarim eine unglaubliche Geschichte: Er wollte im Westin einchecken, stand aber ewig in einer riesigen Schlange. Anders als viele andere Gäste soll Ofarim nicht vorgelassen worden sein. Schließlich habe er einen Mitarbeiter, einen Herrn W., zur Rede gestellt. Die Situation schildert Ofarim in dem Video so: „Dann ruft irgendeiner aus der Ecke: ‚Pack dein’ Stern ein.‘

Und dann sagte Herr W.: ‚Packen Sie Ihren Stern ein.‘ Und dann sagt er: ‚Wenn ich den jetzt einpacke, darf ich einchecken.‘“ Ofarim macht eine lange Pause, schaut nach oben. Fast sieht es so aus, als kämen ihm die Tränen: „Deutschland 2021?“, fragt Ofarim und hält den silbernen Anhänger seiner Halskette in die Kamera. Es ist ein Davidstern.

Fragt man Experten, wie man mit Opfern von Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus umgehen soll, dann lautet die Antwort immer erst einmal: die Vorwürfe ernst nehmen. Doch in diesem Fall gingen die Reaktionen weit darüber hinaus. Das Video von Gil Ofarim sehen Millionen. Und für viele scheint klar: Das, was Ofarim da so detailreich erzählt, muss genauso passiert sein. Es gibt Solidaritätsbekundungen, Boykottaufrufe gegen das Hotel, Drohungen gegen besagten W. Hunderte versammeln sich vor dem Westin, um gegen Antisemitismus zu demonstrieren.

Politiker forderten sehr schnell Konsequenzen

Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) twittert: „Es ist inakzeptabel und macht mich wütend, was Gil Ofarim in meinem Heimatland widerfahren ist.“ Sachsens Justizministerin Katja Meier (Grüne) schreibt: „Dieser offene Antisemitismus im Hotel Westin in Leipzig ist unsäglich und unerträglich.“ Meier fordert Konsequenzen. Eine Entschuldigung reiche nicht aus.

So manche Journalistinnen und Journalisten vergessen in dieser Zeit die Regeln der Verdachtsberichterstattung, bei der Vorwürfe im Konjunktiv formuliert werden, auch die Gegenseite auf Vorwürfe reagieren kann. Nicht nur das Hotel gerät in den Fokus, sondern auch dessen Gäste, weil sie nicht auf die angebliche Beschimpfung reagiert haben sollen. Die „Süddeutsche Zeitung“ attestiert in einem Kommentar „mangelndes Problembewusstsein“. Angesichts der Empörung, die tagelang durch die sozialen Netzwerke fegt, will offenbar keiner dem Vorwurf ausgesetzt sein, sich nicht klar genug zu positionieren.

Hotel beauftragte externe Kanzlei

Auf die Aufregung folgt eine Aufarbeitung, die an Akribie wohl kaum zu überbieten ist. Das Hotel beauftragt eine externe Kanzlei mit einer Prüfung der Vorfälle. Hotelgäste werden befragt, die Aufnahmen der Überwachungskameras ausgewertet. Zwei Wochen nach besagtem Abend steht für das Hotel fest: W. hat nichts falsch gemacht. Die Anschuldigungen von Ofarim: zweifelhaft.

Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln weiter, die Öffentlichkeit macht mit. Ausschnitte der Überwachungsvideos landen auf Youtube. Jeder, der sie sieht, schaut ganz genau hin und sucht: die Kette mit dem Davidstern. Hat Ofarim sie auch schon in der Hotellobby getragen? Konnten sie die anderen Gäste und Herr W. überhaupt sehen? Die Videos, die die LVZ einsehen konnte, zeigen die Ankunft Ofarims vor dem Hotel, gut gelaunt nach einem Dreh beim MDR.

Forensiker analysierte Videomaterial aus Hotellobby

Die Aufnahmen aus der Lobby bestätigen die Darstellung des Künstlers, dass es an dem Abend chaotisch zuging. Die Diskussion am Schalter ist zu sehen, der Moment, in dem ein Hotelmitarbeiter an Ofarim herantritt. Etwas baumelt um den Hals des Künstlers. Dass es sich dabei nicht um die Kette mit dem Davidstern handeln kann, zu dem Ergebnis kommt ein forensisches Gutachten, das das Hotel selbst in Auftrag gegeben hat und der LVZ vorliegt.

Auch die Staatsanwaltschaft hat das Material analysieren lassen – von dem Forensiker Dirk Labudde, der bereits in einem Prozess gegen den Remmo-Clan als Gutachter aufgetreten ist. Um ganz sicherzugehen, wurde das Geschehen im Hotel sogar nachgestellt. Ein Polizist spielte die Rolle von Ofarim, trug dafür sogar die Lederjacke, die der Sänger an jenem Abend im Hotel anhatte.

Ermittler widersprechen Version von Gil Ofarim

Die Ermittler sammelten Fakten in einem Fall, der von Emotionen getragen wurde. Und am Ende kamen sie zu der Überzeugung, dass sich „das Geschehen, wie es von Gil Ofarim in seinem veröffentlichten Video geschildert worden ist, tatsächlich so nicht ereignet“ hat. Die Staatsanwaltschaft hat die Anklage gegen den Sänger mittlerweile noch erweitert. Sie wirft ihm falsche Versicherung an Eides statt vor.

In zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Betrug und in einem Fall in Tateinheit mit versuchtem Betrug. Hintergrund ist eine presserechtliche Auseinandersetzung mit der LVZ. Wer sich nun bei jenen umhört, die sich uneingeschränkt mit Ofarim solidarisieren, stößt auf Zurückhaltung und Reue. Es sei für ihn nicht vorstellbar gewesen, dass sich jemand solche Anschuldigungen ausdenkt, das hatte Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig nach der Anklageerhebung gesagt.

Politiker zeigen nach voreiliger Solidarisierung mit Ofarim Reue

Heute, kurz vor Prozessbeginn möchte sich Dulig nicht mehr äußern. Es sei alles gesagt. Auf Nachfrage der LVZ erklärt Justizministerin Katja Meier: „Ich würde den Tweet so heute nicht wiederholen und bedaure die besondere Belastung, der die Verfahrensbeteiligten durch die aufgeheizte politische Debatte ausgesetzt waren.“

Um zu verstehen, warum die Debatte um Ofarim überhaupt eine solche Dynamik gewinnen konnte, lohnt es sich, auch mit dem Journalisten Philipp Peymann Engel zu sprechen. Ebenso wie Dulig und Meier gehörte er zu jenen, die kaum Zweifel an der Geschichte Ofarims hatten. Die Anfeindungen, die der Sänger in seinem Video schildert, sind für ihn als Juden Alltag.

Kampf gegen Antisemitismus einen Bärendienst erwiesen?

Engel hat damals in der „Jüdischen Allgemeinen Zeitung“ einen Leitartikel geschrieben, darüber, dass Betroffene von Antisemitismus oft ihren Ärger herunterschlucken würden. „Das Schweigen brechen“, so lautete der Titel des Kommentars, und dahinter steckte auch die Hoffnung, dass Ofarim durch seine Prominenz etwas in Gang setzen, anderen Mut geben würde.

Doch mit den Zweifeln wuchs auch die Feindseligkeit: „Wir bekamen Zuschriften, in denen es hieß: Jetzt sei es ja bewiesen, dass die Juden sich das mit dem Antisemitismus nur ausdenken“, erinnert sich der Journalist, der mittlerweile Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeinen Zeitung“ ist.

Auch der Zentraltrat der Juden wurde überzogen mit Nachrichten, viele waren voller Hass. „Sollte es stimmen, was Ofarim vorgeworfen wird, dann hat er dem Kampf gegen Antisemitismus einen Bärendienst erwiesen“, sagt Engel heute. Fragt man ihn, was der nun bevorstehende Prozess leisten kann, sagt er: „Ich glaube, dass wir ein Stück weit Gewissheit bekommen, was tatsächlich passiert ist.“ Nach dem Urteil, so hofft Philipp Peymann Engel, könne man vielleicht auch einen Schlussstrich ziehen – zumindest im Fall Gil Ofarim.

Ofarim spricht vor Prozess in Interview über Antisemitismus

Aber geht das so einfach? Gil Ofarim hat kurz vor dem Prozess ein Interview gegeben, das erste seit über einem Jahr. Im Gespräch mit der „Welt am Sonntag“ spricht der Sänger über Erfahrungen mit Antisemitismus, die er seit seiner Kindheit gemacht hat: Beleidigungen, Drohbriefe und Hundekot im Briefkasten, Gewalt – und über den Ablauf an dem besagten 4. Oktober sagt er: „Ich weiß, was mir passiert ist.“

Angesprochen auf das forensische Gutachten, den Davidstern, der an besagtem Abend nicht sichtbar gewesen sein soll, sagt der 41‑Jährige: „Es ist meine Identität und mein Markenzeichen.“ Er habe die Kette immer bei öffentlichen Auftritten getragen. Die Behauptung, sie sei nicht zu sehen gewesen, könne er nicht verstehen. Ofarim beharrt auf seiner Version, sieht sich weiterhin als Opfer. Seine Anwälte wollen für ihn einen Freispruch erwirken.

Das Landgericht Leipzig hat für den Prozess zehn Verhandlungstage angesetzt, insgesamt sollen 30 Zeugen gehört werden. Die Sicherheitsvorkehrungen sind mit Blick auf die aktuelle Bedrohungslage verschärft worden. Es gibt Kontrollen im Eingangsbereich des Gerichts und direkt vor der Tür des Saals 115. Politische oder religiöse Symbole sind verboten, das hat der Vorsitzende Richter der sechsten Strafkammer verfügt. Man will keinen Raum lassen für Störungen oder Provokationen. In einem Verfahren, in dem schon genug Schaden entstanden ist. (rnd)