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Gespräch mit Ralf FücksFür ein neues Verständnis von Freiheit

Lesezeit 10 Minuten
Die Sonne geht hinter der Freiheitsstatue in New York unter.

Symbol der Freiheit: Die Freiheitsstatue vor dem Sonnenuntergang in New York

Ralf Fücks vom „Zentrum Liberale Moderne“ erklärt, warum der Liberalismus als Denkschule in die Defensive gekommen ist und wie er sich erneuern müsste. Außerdem warnt er vor einem Kulturkampf über die Identitätspolitik.

Herr Fücks, der Satz „die Freiheit ist bedroht“ läuft nicht erst seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs als rhetorische Endlosschleife. Auch Sie verwenden ihn – und wollen mit Ihrem „Zentrum Liberale Moderne“ dagegenhalten. Reden wir zu viel über Freiheit und denken zu wenig über Freiheit nach?

Ralf Fücks: Zumindest gibt es große Spannungen zwischen jenen, die sich alle miteinander als „Freunde der Freiheit“ verstehen. Die einen vertreten einen radikal individualistischen Begriff von Freiheit – im Sinne der Freiheit von staatlichen Eingriffen in das Leben des Einzelnen. Die anderen betonen mehr die gesellschaftlichen Bedingungen von Freiheit und die gleiche Freiheit aller.

Ist es in der Pandemie gut gelungen, beides auszutarieren?

Es gab vielleicht zu lange einen Primat der Prävention. Die Lockdown-Politik hat die Kollateralschäden insbesondere für Kinder und Jugendliche nicht genügend mitbedacht. Gerade in der Anfangsphase der Pandemie stocherte die Politik im Nebel. Es fehlten empirische Daten über Infektionsverläufe und Ansteckungsketten. In einer solchen Situation muss Politik extrem lernfähig sein, muss sich korrigieren können, neue Erkenntnisse aufzunehmen und in ihr Handeln einbeziehen.

Wir haben in der Pandemie auch gesehen, dass ein verständliches Sicherheitsbedürfnis der Menschen die Freiheitsrechte zeitweilig fast als zu vernachlässigende Größe hat dastehen lassen.

Wer Freiheit und Sicherheit gegeneinander ausspielt, wird am Ende beides verlieren. Das ist das grundlegende Dilemma moderner Gesellschaften. Sie sind hoch verwundbar und in einem ständigen Wandel. Das ruft das Bedürfnis nach Sicherheit, Stabilität und Kontinuität hervor. Man sollte das weder ignorieren noch verdammen. Das Kunststück besteht in der Balance zwischen legitimen Sicherheitsinteressen und dem Schutz von Freiheitsrechten, die nicht eingetauscht werden können gegen ein Sicherheitsversprechen. Den Kipppunkt muss man immer konkret bestimmen und gesellschaftlich aushandeln.

Wo sehen Sie heute die wesentlichen Bedrohungen unserer Freiheit?

Die Frage der Bedrohung von außen ist einfach zu beantworten: Wir erleben den Aufstieg zunehmend selbstbewusst auftretender autoritärer Mächte mit China und Russland an der Spitze. Auch Iran gehört zu dieser Achse, die nicht von ungefähr militärisch zusammenarbeitet. Diese Regime haben den Spieß umgekehrt: Lange Zeit hat der Westen Demokratie-Export betrieben und für eine Ausdehnung des liberalen Gesellschaftsmodell gesorgt.

Ab 2005 etwa ist eine Trendumkehr eingetreten: Die Zahl der demokratischen Staaten schrumpft, es gibt selbst in der EU mit Staaten wie Ungarn einen Rückfall in autoritäres Fahrwasser, und die ohnehin autoritären Regime marschieren schnurstracks in Richtung Diktatur – China steht für einen neuen digitalen Totalitarismus. Diese Bedrohung der Freiheit von außen hat mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht.

Zuletzt auch Italien?

Italien würde ich nicht in die Reihe der autoritären Staaten einordnen, weil dort noch kein Angriff auf die demokratischen Institutionen erkennbar ist. Typisch für autoritäre Herrschaft ist ja die Aushebelung von Gewaltenteilung und Machtkontrolle, der demokratischen „Checks and Balances“ mit der Unabhängigkeit der Justiz und der Medien.

Und die Bedrohung der Freiheit von innen?

Von innen sehen wir den Aufstieg populistischer, meist rechter Parteien. Wir erleben die Rückkehr des „starken Mannes“, einer Figur aus den 1930er Jahren, mit Politikern wie Donald Trump in den USA, Viktor Orbán in Ungarn, Xi Jinping in China oder Narendra Modi in Indien. Und wir stellen ein schrumpfendes Vertrauen in die Demokratie fest.

Auch in Deutschland zweifelt ein Drittel der Bevölkerung an der Handlungsfähigkeit der demokratischen Institutionen
Ralf Fücks, Zentrum Liberale Moderne

Auch in Deutschland zweifelt etwa ein Drittel der Bevölkerung an der Handlungsfähigkeit der demokratischen Institutionen. Das alles hat viel zu tun mit dem Tsunami der Veränderungen, denen unsere Gesellschaft zeitgleich und mit hohem Tempo ausgesetzt sind. Eine wachsende Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern ruft massive Ängste hervor. Auf solchem Boden gründet die antiliberale Bewegung.

Was führt Sie dann zu der These, diese antiliberale Welle habe unterdessen ihren Scheitelpunkt überschritten?

Ich mache das an zwei aktuellen Ereignissen fest: dem Ukraine-Krieg und den Protesten in Iran. Ihre Bedeutung für den Grundkonflikt zwischen Freiheit und Autoritarismus reicht weit über die jeweiligen Länder hinaus. Mir ist die Unterstützung des Westens für die Freiheitsbewegung im Iran bislang zu schwach, und auch die Ukraine könnte gut ein bisschen mehr Empathie gebrauchen. Wir haben noch nicht ausreichend erkannt, was auch für uns auf dem Spiel steht. Positive Signale gibt es auch in etablierten Demokratien.

An welche Signale denken Sie?

Die US-Demokraten konnten sich in den Midterms-Wahlen deutlich besser als erwartet behaupten; die Trumpisten haben einen empfindlichen Dämpfer erlitten. Das gibt Hoffnung auf eine erfolgreiche Verteidigung demokratischer Grundwerte und Institutionen. Ich vertraue, anders gesagt, auf die Robustheit und die Erneuerungsfähigkeit der Demokratien.

Es gab eine doppelte demokratische Selbstgefälligkeit
Ralf Fücks, Zentrum Liberale Moderne

Haben die liberalen Demokratien westlicher Prägung ihre Strahlkraft als politisches Heilsmodell und zugleich ihre Standfestigkeit überschätzt?

Es gab in der Tat eine doppelte demokratische Selbstgefälligkeit: Zum einen als Illusion, die ganze Welt bewege sich unumkehrbar in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft. Francis Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ bedeutete ja nicht, dass von nun an alles stillsteht, sondern dass es keine Systemalternative zur Kombination von Marktwirtschaft und Demokratie mehr gibt. In dieser Selbstgewissheit ging verloren, dass die Dinge schon Mitte der 1990er Jahre in eine ganz andere Richtung liefen.

Was war die andere demokratische Selbstgefälligkeit?

Wir haben uns zu wenig angestrengt, unsere Innovationsfähigkeit zu stärken und die Modernisierung von Staat und Wirtschaft konsequent voranzutreiben, etwa mit Blick auf Digitalisierung und Klimaneutralität. Aber auch die neuen sozialen Fragen wurden nicht konsequent angegangen: Wohnen, wachsende Kluft in der Vermögensverteilung und die Bildungsdefizite, die durch die Pisa-Studien offengelegt wurden.

Und all das deklinieren Sie weniger als Gerechtigkeitsfrage, sondern als Freiheitsproblem. Warum?

Weil es um die gleiche Freiheit und gleiche Chancen für alle geht. Auf die Frage „Wie viel Ungleichheit verträgt Demokratie?“ gibt es bislang keine befriedigende Antwort.

Haben Sie eine?

Zunächst einmal kann Ungleichheit, die Ergebnis des Leistungsprinzips ist, durchaus ein Motor für ökonomische Dynamik sein, für Innovation und Eigeninitiative. Wo heute Selbstkritik bei liberalen Geistern angesagt wäre, ist die Unterschätzung öffentlicher Güter. Dazu gehört auch die öffentliche Infrastruktur: Die Misere der Deutschen Bahn ist doch einer modernen Demokratie unwürdig – auch im Vergleich zu anderen Ländern.

Zu den öffentlichen Gütern zählen auch das Bildungssystem, kulturelle Einrichtungen und nicht zuletzt die öffentliche Sicherheit. Wenn man diese im besten Sinne republikanischen Institutionen und deren auskömmliche Finanzierung zu stark vernachlässigt und nur auf die private Einkommens- und Vermögensbildung abhebt, dann schlägt das irgendwann zurück.

Wenn der Liberalismus aus der Defensive kommen will, muss er eigene blinde Flecken hinterfragen
Ralf Fücks, Zentrum Liberale Moderne

Und unversehens wird ein Begriff wie „Liberalismus“ zum Schimpfwort?

Wenn der Liberalismus als Denkschule aus der Defensive kommen will, muss er eigene blinde Flecken selbstkritisch hinterfragen, insbesondere eine fatale Verengung auf Marktliberalismus und ökonomische Freiheit. Der Liberalismus ist – durchaus nicht ohne eigenes Zutun – in die Ecke der Status-quo-Wahrer und Privilegien-Verteidiger geraten. Dabei hat er einmal als revolutionäre Bewegung begonnen mit dem Ziel, autoritäre Herrschaft und Standesprivilegien zu überwinden. Dieses Element einer produktiven Unruhe, eines erneuerten progressiven Selbstverständnisses wäre als liberale Botschaft zentral.

Was sind denn freiheitliche Antworten auf die großen Herausforderungen?

Wir können das am Beispiel Klimapolitik durchbuchstabieren. Ich glaube, dass Liberale hier noch immer im Abwehrmodus wahrgenommen werden: keine Staatseingriffe in die private und unternehmerische Freiheit, keine Kostenbelastung für Verbraucher und Betriebe, kein Tempolimit. Tatsächlich gibt es eine Gefahr, schleichend in eine Art Öko-Dirigismus zu rutschen mit einem immer strikteren staatlichen Reglement. Aber ohne eigene Antworten gerät der Liberalismus schnell ins Abseits, und dann demonstrieren „Fridays for Future“ oder die „Letzte Generation“ vor der FDP-Zentrale und erklären die Liberalen zum Hauptfeind, was eine tragische Verkehrung ist.

Als „typisch liberale“ Antwort auf die Herausforderung des Klimawandels gilt der Ruf nach technologischer Innovation, mit der die Probleme zu meistern seien. Ist das mehr als eine Selbstsuggestion?

Angesichts einer in Richtung zehn Milliarden Menschen wachsenden Weltbevölkerung haben wir gar keine andere Chance, als ökonomische Wertschöpfung und Naturverbrauch zu entkoppeln. Das geht nur über eine grüne industrielle Revolution – nicht als Abschied von der modernen Industriegesellschaft, sondern als Sprung in eine ökologische Moderne, die nicht mehr auf Raubbau an der Natur beruht. Dazu gehört aber auch, dass die Preise für Energie und Konsumgüter die ökologische Wahrheit sagen müssen, weil daraus der entscheidende Anreiz zu ökologisch bewusstem Verhalten und ökologischer Innovation kommt – für Produzenten wie für Konsumenten.

Haben unsere Gesellschaften die Fähigkeit zum Umsteuern?

Die Herausforderung ist der Umbau komplexer Industriegesellschaften mitten im laufenden Betrieb. Wenn wir nur den Klimawandel im Auge haben und die notwendigen Veränderungen so forciert werden, dass sie zu massiven wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen führen, geht die Akzeptanz verloren. Wir können das Spannungsfeld von Ökonomie, Ökologie und sozialer Fairness nicht einseitig auflösen.

Ein anderes Beispiel könnte auch der zunehmend aggressivere Streit über die Identitätspolitik sein: Gender-Debatte, Cancel Culture – und wie die Stichworte heißen. Im Grunde handelt es sich dabei doch auch um einen liberalen Impuls: Minderheiten schützen, den Übersehenen und Überhörten Gesicht und Stimme geben. Haben Sie eine liberale Idee für eine Konfliktminderung?

Der Blick in die USA lässt in der Tat die Gefahr eines Kulturkampfes erkennen, in dem es um kollektive Identitäten geht. Wir müssen unterscheiden zwischen dem offensiven Eintreten gegen Diskriminierung, für Minderheitenrechte, für Teilhabe-Chancen einerseits und einer Identitätspolitik, die den Partikularismus und die Fliehkräfte in der Gesellschaft stärkt, indem sie Individuen nur noch nach ihrer Gruppenzugehörigkeit betrachtet und bewertet.

Wenn man Identitätspolitik von links überzieht, bekommt man den Kulturkampf von rechts
Ralf Fücks, Zentrum Liberale Moderne

Das Risiko liegt darin: Wenn man Identitätspolitik von links überzieht, bekommt man den Kulturkampf von rechts. In den US-Midterms haben die Demokraten überall da gewonnen, wo sie stärker auf die Alltagsprobleme der Menschen eingegangen sind und nicht das Spiel der Republikaner mitgespielt haben, Kulturkampf-Themen ins Zentrum zu stellen. Ein bestimmtes Maß an Konflikt ist unvermeidlich – etwa in der Geschlechterpolitik, wo es um die Überwindung angestammter Privilegien geht. Da haben, um es klar zu sagen, Männer natürlich etwas zu verlieren. Aber sie haben auch etwas zu gewinnen, wenn der Kampf für Geschlechtergerechtigkeit und gegen ethnische Diskriminierung nicht als „Kampf gegen alte, weiße Männer“ geführt wird.

Wie kann der Prozess einer Erneuerung des Liberalismus überhaupt funktionieren?

Ich bin da recht zuversichtlich. Die Debatte um einen zeitgemäßen Liberalismus hat bereits an Schwung gewonnen, und liberale Parteien, die sich dem nicht stellen, riskieren, aus dem Spiel geworfen zu werden. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die liberale Programmatik, sondern auch auf eine andere Haltung, eine andere Sprache, damit der Liberalismus wieder als etwas Empathisches und Passioniertes erfasst wird.


Ralf Fücks , geb. 1951, ist Geschäftsführender Gesellschafter des „Zentrums Liberale Moderne“, das sich nach eigenen Angaben „der Verteidigung der offenen Gesellschaft gegen autoritäre Kräfte“ nennt. Fücks war 20 Jahre lang Vorstand der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung. Zuvor war der Grünen-Politiker unter anderem Bürgermeister und Umweltsenator in Bremen.

Zusammen mit Rainald Manthe hat Fücks den Sammelband „Liberalismus neu denken. Freiheitliche Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit“ herausgegeben (Verlag Transcript, 199 Seiten, 19,50 Euro). Über zentrale Thesen dieses Buches sprechen wir mit einigen Autorinnen und Autorinnen.


Wie tönt der Sound eines empathischen Liberalismus?

Die Begriffe sind gar nicht neu. Sie müssen aber neu mit Leben gefüllt werden: Chancengerechtigkeit, Menschenrechte, gleiche Freiheit für alle. Es geht darum, den humanistischen Charakter des Liberalismus hervorzukehren und zu verdeutlichen, dass es ihm um die Würde des Menschen, seine Selbstbestimmung und seine Entfaltungsmöglichkeiten geht.

Eine Art Gerhart-Baum-Liberalismus?

Der von Baum vertretene Bürgerrechts-Liberalismus ist ein ganz wichtiges Motiv. Aber auch das ist mir noch zu eng. Wenn Sie es mit großen Namen verbinden wollen, würde ich Ralph Dahrendorf hinzufügen – als immer noch aktuellen Vorreiter für einen modernen Liberalismus. Ich nenne beispielhaft die Bedeutung, die Dahrendorf der „Bildung für alle“ beigemessen hat. Dieses liberale Erbe ist ein ungehobener Schatz.