Bei den Palästinensern im Libanon wird der neue Hamas-Chef verehrt. Besuch in einem Flüchtlingscamp in Beirut – wo die Menschen den Krieg herbeisehnen.
Reportage aus dem Libanon„Jeder hier will Krieg“ – Wo der neue Hamas-Chef gefeiert wird
Jihia al-Sinwar ist weit entfernt in einem Versteck vermutlich im Gazastreifen, trotzdem ist er hier in der libanesischen Hauptstadt Beirut omnipräsent: Im palästinensischen Flüchtlingslager Burdsch el-Baradschneh hängen etliche Poster mit dem Konterfei des neuen Chefs der Terrororganisation Hamas an den Mauern.
Andere Plakate zeigen seinen Vorgänger Ismail Hanija, der in der vergangenen Woche mutmaßlich durch Israel in Teheran getötet wurde. Israel habe sich verkalkuliert, sagt ein 52 Jahre alter Ladenbesitzer im Flüchtlingslager, der seinen Namen nicht nennen will. „Jemand noch stärkeres als Hanija hat die Führung übernommen.“
Apotheke nach dem 7. Oktober benannt
Die Menschen im Camp verehren Sinwar, den Drahtzieher des Terrorangriffs vom 7. Oktober auf Israel, bei dem rund 1200 Menschen getötet und 250 weitere in den Gazastreifen entführt wurden. Das Massaker wurde in Burdsch el-Baradschneh gefeiert, eine Apotheke am Eingang des Lagers ist nach dem 7. Oktober benannt.
Der Terrorangriff führte zum Gazakrieg und zu einer Spirale der Eskalation im Nahen Osten, an der zuletzt die Tötungen von Hanija und von Fuad Schukr standen. Der hochrangige Kommandeur der Schiiten-Miliz Hisbollah, die mit der Hamas und dem Iran verbündet ist, kam bei einem israelischen Drohnenangriff in Beirut ums Leben.
Während internationale Bemühungen um Deeskalation laufen, hoffen die Palästinenser in Burdsch el-Baradschneh auf das Gegenteil. „Jeder hier will Krieg“, sagt Nader (27), der Reporter durch das Lager führt, wenn er nicht Essen mit seinem Motorroller ausfährt. Man sei darauf vorbereitet, gegen Israel ins Feld zu ziehen. „Das Camp ist voller Waffen.“ Der Ladenbesitzer, der anonym bleiben will, sagt, er sei bereit, seine drei Söhne im Alter von zwölf, 25 und 27 Jahren in den Krieg zu schicken. Der Zwölfjährige, der gerade ebenfalls im Laden ist, quittiert das mit einem breiten Lächeln.
Die Hausfrau Inaam (40), die wie viele hier nur mit Vornamen genannt werden will, setzt ebenfalls auf Eskalation. „Ich hoffe, dass der Iran und die Hisbollah angreifen und unser Land befreien“, sagt sie. „So Gott will, wird Israel ausradiert werden.“ Sinwars Ernennung zum Hamas-Chef sei überall im Lager gefeiert worden. „Die Menschen haben gesagt, jetzt ist ein neuer Held gekommen.“
Israel sieht das naturgemäß anders. Außenminister Israel Katz nennt Sinwar einen „Erzterroristen“. Seine Ernennung sei „ein weiterer zwingender Grund, ihn rasch zu beseitigen und diese abscheuliche Organisation vom Angesicht der Erde zu tilgen“, schreibt Katz auf X (vormals Twitter). Sie müsse außerdem „eine klare Botschaft an die Welt senden, dass die palästinensische Frage jetzt vollständig von Iran und Hamas kontrolliert wird. Ohne israelische Maßnahmen im Gazastreifen würde das Gebiet vollständig unter die Kontrolle der Hamas fallen.“
Burdsch el-Baradschneh: Ort der Perspektiv- und der Hoffnungslosigkeit
Die Menschen in Burdsch el-Baradschneh würden genau das begrüßen. Das Lager ist ein Ort der Perspektiv- und der Hoffnungslosigkeit. In dem größten der drei Palästinenser-Camps in Beirut leben nach libanesischen Schätzungen rund 20.000 Menschen. Die Armut ist gewaltig: Palästinenser dürfen im Libanon nicht arbeiten, viele Menschen im Lager halten sich mit Gelegenheitsjobs oder mit Unterstützung von Angehörigen im Ausland über Wasser. Das Camp wurde 1948 gegründet, im selben Jahr wie der Staat Israel. Viele Familien sind seit Generationen hier.
Durch das Camp führt ein Labyrinth an engen Gassen, durch die sich Motorroller und Fußgänger drängen. Darüber verlaufen kreuz und quer schlecht isolierte Stromkabel und leckende Wasserleitungen. Auf dem Boden liegt Müll. An den Mauern erinnern Plakate an getötete Kämpfer der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihads (PIJ).
Zwischendrin liegen kleine Lebensmittelgeschäfte wie das von Saada. Die 77-Jährige ist in Safed im heutigen Israel geboren worden. Sie erinnert sich nicht mehr an die Region, wünscht sich aber nichts sehnlicher, als dorthin zurückzukehren. „Ich bete zu Gott, zurückgehen zu können“, sagt sie. „Wenn meine Gebete erhört werden sollten, würde ich sogar barfuß dorthin laufen.“
Mitarbeit: Lamis Sbeity