Mit Scholz hoffte die Partei auf ein „sozialdemokratisches Jahrzehnt“. Nach dem Ampel-Aus geht in der stolzen Volkspartei die Angst um.
Angst vor dem Untergang in der SPDOlaf Scholz und das Ampel-Aus – Ein Kanzler ohne Macht
Der Kanzler ist blass, seine Augen sind rot gerändert. So sieht man ihn und andere Spitzenpolitiker oft bei einem internationalen Gipfel wie diesem in Ungarn. Flieger, Klimaanlagen, Schlafmangel. Aber bei seinem Statement zur düsteren Weltlage am Freitagmorgen auf einer Dachterrasse in Budapest steckt Olaf Scholz etwas ganz anderes in den Knochen: das Ampel-Aus. Der Sozialdemokrat hat nicht nur Finanzminister Christian Lindner und damit dessen FDP aus dem Kabinett geworfen. Scholz hat aller Voraussicht nach damit auch schon im dritten Jahr zu Bruch gefahren, was für seine SPD erst noch kommen sollte: das „sozialdemokratische Jahrzehnt“. Auf seinen Schultern lastet nun die Hauptverantwortung, in den nächsten Wochen den Untergang der stolzen alten Volkspartei abzuwenden. Wenn diese ihn noch will.
Es stellt sich die Frage, wie die Sozialdemokraten Scholz durch den voraussichtlich brutalen Wahlkampf tragen werden mit zu befürchtenden Anleihen der Populisten und Extremisten an Lügen und Niedertracht nach Art von Donald Trump in den USA. Wie die SPD Scholz als erfolgreichen und führungsstarken Macher darstellen will, der die Ampel nicht in den Griff bekommen hat. Welche neue „Erzählung“, die in der Politik so wichtig geworden ist, sie sich ausdenken wird für diesen Mann mit der seltenen Kombination aus Schüchternheit und überzogenem Selbstbewusstsein, intellektuellem Respekt vor den sogenannten kleinen Leuten und unverhohlener Verachtung für klein denkende Menschen.
Generalsekretär freut sich über neue Mitglieder
Gerade wegen Scholz habe die SPD 500 neue Mitglieder seit Mittwochabend bekommen, teilt SPD-Generalsekretär Matthias Miersch in Berlin mit Genugtuung mit. An diesem historischen Mittwochabend hatten in einer Sondersitzung auch annähernd 200 SPD-Bundestagsabgeordnete dem Kanzler stehend applaudiert. Als habe er nicht soeben eine Regierung beendet, sondern mit dem Regieren begonnen. Wie 2021, als er als Außenseiter die Wahl gewonnen und dann das Kunststück fertiggebracht hatte, erstmals auf Bundesebene die widerstreitenden Freien Demokraten und Grünen in eine Koalition zu bringen. Nun beklatschten sie den gescheiterten Ampelkanzler, der Lindner gerade öffentlich wüst als „kleinkariert“ und noch vieles mehr beschimpft hat.
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Schon lange brodelte es in der Fraktion, weil Scholz ihrer Ansicht nach eigene sozialpolitische Projekte dem Wirtschaftsliberalismus von Lindner untergeordnet habe. Mit ein bisschen Abstand beschleicht aber inzwischen selbst Sozialdemokraten das Gefühl, dass der Kanzler überzogen habe mit seiner harten Attacke gegen Lindner, auch wenn es nur zu verständlich sei, dass er seine über Monate angestaute Wut über Querschüsse des FDP-Chefs trotz aller Kompromissbemühungen einfach mal rauslassen musste.
Doch der Applaus von Mittwochabend, so heißt es, könne umso schneller wieder verfliegen, desto größer die Sorge der Parlamentarier werde, durch massive Stimmenverluste bei der Neuwahl in wenigen Monaten ihr Mandat zu verlieren. Und auch das trägt für den Moment zum Frust bei: Die FDP kann seit Mittwochabend einen Schub in den Umfragen von unten in Richtung Fünfprozenthürde vermelden. Sollten die Werte der SPD, die mit um die 15 Prozent die schlechtesten Umfrageergebnisse einer Kanzlerpartei jemals einfährt, weiter abrutschen, könnte sich dann die eine entscheidende Frage stellen: Wird die nächste Kanzlerkandidatur doch der in der Bevölkerung beliebtere Verteidigungsminister Boris Pistorius übernehmen – oder der viel jüngere Parteichef Lars Klingbeil? Im Moment wird das in der SPD vehement bestritten. Die Erfahrung und die Integrität von Scholz seien von entscheidender Bedeutung, heißt es.
„Europa und die Welt stehen vor großen Herausforderungen“, sagt Scholz in Budapest gewohnt leise in die Kameras, als sei außer den Erschütterungen durch Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine, den Nahostkrieg und die Rückkehr von Donald Trump für ihn nichts Neues dazugekommen. Er mahnt den Zusammenhalt der Europäischen Union an, während der Zusammenhalt seiner Regierung Geschichte ist. Er kündigt an, dass „wir“ mit Trump „auch“ weiterhin gut zusammenarbeiten. Wie lange aber er selbst Teil dieses europäischen „Wir“ sein wird, ist ungewiss.
Olaf Scholz ist nun eine „lahme Ente“
Knapp drei Minuten sagt er etwas und schaut dann über Budapest, den flachen Teil Pest und auf die andere Seite der Donau, wo das hügelige Buda liegt. Kameraleute schwenken sofort dorthin, wo der Kanzler für einen Moment stumm und in Gedanken versunken in die Weite sieht – der Chef nun nur noch einer Minderheitsregierung der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt, die Europa als Stabilitätsfaktor und die Ukraine zum Überleben braucht. Die Reputation Deutschlands hat zuletzt gelitten. Unter Scholz ist „German Vote“ zum geflügelten Wort in Brüssel geworden. Lieferkettengesetz, Verbrenner-Aus, Asylkompromiss – ständig zankten sich die Deutschen auf offener Bühne und kassierten Beschlüsse mit Brüssel.
Nun ist die ganze Ampel kaputt und Scholz eine „lahme Ente“, die „Lame Duck“, wie die Amerikaner einen Politiker bezeichnen, der als handlungsunfähig gilt. Während der Bundeskanzler am Donnerstag im Schloss Bellevue der Ministerentlassung und -ernennung im Akkord zusehen musste, trafen sich in Budapest schon die anderen Staats- und Regierungschefs der Europäischen Politischen Gemeinschaft – ein 2022 ins Leben gerufener Club, der sich insbesondere als Allianz für die Ukraine versteht. Seine Teilnahme an der Weltklimakonferenz nächste Woche in Aserbaidschan hat er abgesagt.
Dass Scholz kein Einzelfall unter den europäischen Regierenden ist, macht die politische Lage nicht besser. Zuletzt war Frankreichs Präsident Emmanuel Macron durch die von ihm vorgezogene Wahl seines Parlaments von der internationalen Politik abgelenkt. Immerhin das haben Scholz und Macron gemeinsam: in der Heimat große Fliehkräfte der politischen Mitte sowie starke Populisten und Extremisten von links und rechts. Ansonsten gehört das unter den beiden gestörte deutsch-französische Verhältnis zu den außenpolitischen Schwächen des Kanzlers.
Ob die EU ohne deutsch-französischen Antrieb stark genug sein wird, sich gegen einen willkürlichen Trump-Protektionismus zu stemmen? Wenn erst einmal US-Strafzölle auf deutsche Autos und andere Produkte durchschlagen und Scholz noch amtiert, dürfte er sich nach seinen Sorgen von heute um das Land zurücksehnen. Ob sie ihn im Kreis der EU vermissen werden, sollte er nicht Regierungschef bleiben? Scholz und sein engeres Umfeld würden bei dieser Frage im Brustton der Überzeugung erst einmal behaupten, dass die SPD die Wahlen gewinnen werde. Und dann mit einem etwas genervten Unterton an 2021 erinnern, als auch erst mal niemand an einen Kanzler Scholz geglaubt habe.
Viele glauben nicht an ein erneutes Wahlwunder
Doch viele andere in der SPD glauben nicht mehr an Wunder. Sie fürchten auch, dass Scholz die Wahl von vor drei Jahren nicht richtig reflektiert. Er sei nicht der Einzige gewesen, der den Sieg für die SPD errungen habe. Unabhängig von der damals neuen Disziplin in Partei und Fraktion, das Führungspersonal nicht mehr zu „häckseln“, habe vor allem die Union mit ihrem internen Streit um den Kanzlerkandidaten Armin Laschet der SPD kräftig geholfen.
Mit Friedrich Merz als Kanzlerkandidat sei ungewiss, ob man noch einmal auf Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) hoffen könne, den eigenen Wahlkampf aus Missgunst und verletzter Eitelkeit zu stören. Überhaupt sei es heikel, dass Scholz durch seine freudige Reaktion auf die Kanzlerkandidatur von Merz auch öffentlich den Eindruck erweckt habe, er habe mit ihm leichtes Spiel. Der bald 69-jährige Merz dürfe nicht unterschätzt werden.
Merz treibt Scholz nun auch schon in der Frage der Neuwahl vor sich her. Der von Scholz genannte 15. Januar für die Vertrauensfrage im Bundestag sei viel zu spät. Schon nächsten Mittwoch müsse er seine geplante Regierungserklärung mit der Vertrauensfrage verbinden, fordert die Union. Wird es dennoch beim 15. Januar bleiben? Eine Regierungssprecherin antwortet am Freitag kurz: Ja.
Wirklich? Scholz gilt als stur. Und überrascht dann in Budapest mit dem Gegenteil, wenn auch mit dem Versuch, Kapital für SPD-Themen herauszuschlagen. „Aus aktuellem Anlass“ wolle er noch ein anderes Thema ansprechen, sagt er in einem zweiten Statement kurz vor dem Rückflug nach Berlin. Er wolle möglichst zügig Neuwahlen haben, betont er. Und dann macht er ein Angebot: „Es wäre gut, wenn nun im Bundestag unter den demokratischen Fraktionen eine Verständigung darüber erreicht wird, welche Gesetze noch in diesem Jahr beschlossen werden können.“ Welche sagt er nicht. Aber es liegt ihm viel am Rentenpaket, am Kindergeld, an der Abschwächung der kalten Progression. Schließlich das Gegengeschäft: „Diese Verständigung könnte dann auch die Frage beantworten, welcher Zeitpunkt dann der richtige ist im Bundestag, die Vertrauensfrage zu stellen auch im Hinblick auf den möglichen Neuwahltermin.“ Er betont, für eine freie und demokratische Wahl brauche es ausreichend Zeit für die Organisation.
Zusammenarbeit in noch anderer Hinsicht wäre wichtig, um die Demokratie vor Angriffen zu bewahren, bevor das eine neue Zusammensetzung des Bundestags vielleicht nicht mehr möglich macht: die bessere Absicherung des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz – und womöglich doch auch im Interesse der Union eine Reform der Schuldenbremse. Für beides wird eine Zweidrittelmehrheit gebraucht. Falls AfD und BSW nach der Wahl gemeinsam über mehr als ein Drittel der Mandate verfügen sollten, wäre das nicht mehr möglich.
SPD-Fraktionschef Mützenich stehen die Strapazen der Ampelpolitik in das hagere Gesicht geschrieben. Am Mittwochabend holt er die Genossen auf den Boden der Tatsachen zurück, nachdem sie Scholz mit Beifall gestützt und getröstet hatten. „Tapfer“ müssten sie jetzt alle sein, mahnt er. Ein ungewöhnliches Wort in der Politik. Tapfer kann man doch erst sein, wenn etwas richtig wehgetan hat. Die nächsten Monaten könnten schmerzhaft werden für die SPD, für Scholz, meint Mützenich eigentlich. Dann, wenn das sozialdemokratische Jahrzehnt auf unbestimmte Zeit verschoben werden muss.