Lehrkräftemangel, Corona-Spätfolgen, marode Gebäude - das Schulsystem leidet an vielen Problemen. Was das Land gegen die Bildungsungerechtigkeit unternehmen will.
„Bildungskatastrophe“NRW sucht verzweifelt nach einem Weg aus der Schul-Krise
Bald ist der Begriff 60 Jahre alt, mit dem der Philosoph Georg Picht dem bundesdeutschen Schulsystem ein vernichtendes Zeugnis ausstellte. 1964 brachte er seine Wut über unterfinanzierte Schulen und vorgestrige Pädagogik im Schlagwort vom „Bildungsnotstand“ zum Ausdruck – ein Jahr darauf folgte Rolf Dahrendorf, Soziologe und Politiker, der durch institutionalisierte Dummheit die Demokratie in Gefahr sah.
„Bildung ist Bürgerrecht“, stellte er fest, und da die politischen Zeichen in den ausgehenden 60er Jahren auf Veränderung standen, blieben Picht und Dahrendorf mit ihren Diagnosen nicht allein. Ein Ergebnis von Debatten und einberufenen Kommissionen war die Einführung der Gesamtschule.
Anno 2023 ist Pichts Bildungsnotstand wieder – oder noch immer – aktuell. Marode Schulgebäude, schlechte Ergebnisse deutscher Schülerinnen und Schüler wie zuletzt bei einer Studie über Basiskompetenzen von Viertklässlern, all das lässt manchen gar von einer „Bildungskatastrophe“ sprechen.
Und auch wenn weniger hitzig temperierte Politiker wie die nordrhein-westfälische Bildungsministerin Dorothee Feller (CDU) sich dieser Rhetorik nicht anschließen wollen, schätzen doch auch sie die Situation als dramatisch ein. Vor allem der Lehrkräftemangel stürzt das ganze System nach Corona in die nächste Krise: Schon jetzt fehlen in NRW 10.000 Lehrkräfte; wenn in den kommenden Jahren mehr und mehr zusätzlich in Rente gehen, wächst diese Zahl entsprechend, falls ihr kein entsprechender Zufluss von den Unis entgegensteht. Und danach sieht es nicht aus.
Debatte über Lösungswege im NRW-Landtag
Zu wenige Schulen, von denen zu viele in einem schlechten Zustand sind, zu wenige Lehrkräfte, von denen sich zu viele überfordert fühlen – dazu die Pandemie, deren Folgen noch nicht ausgestanden sind: Wer darunter am meisten leidet, keine Frage, sind die Kinder und Jugendlichen, die sich unter diesen Vorzeichen bilden und letztlich auch auf ihre Zukunft vorbereiten sollen.
Ein trüber Spätnachmittag im Februar, im Düsseldorfer Landtag brennt nur im Trakt der SPD noch Licht. Hier hat die Partei zu einer Konferenz eingeladen, um mit Vertretern aus Politik, Wissenschaft und schulischer Praxis über Lösungswege zu debattieren. „Bildungskatastrophe abwenden“, haben die nordrhein-westfälischen Sozialdemokraten die Veranstaltung überschrieben, und bei der abschließenden Podiumsdiskussion beklagt ihr Landesvorsitzender Thomas Kutschaty vor allem die mangelnde Chancengleichheit. Deswegen macht sich seine Partei für die Kindergrundsicherung stark, die einkommensschwachen Familien helfen soll.
20 Prozent der Kinder in NRW lebten in Armut, sagt Kutschaty. Und dort, wo die sozialen Probleme drängen, darüber sind sich alle demokratischen Parteien im Verein mit der Sozialwissenschaft einig, sind auch die Defizite in der Bildung am größten. „Gute Bildung darf nicht von der Postleitzahl abhängen“, so formuliert es die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Ayla Çelik.
Bildung ist Persönlichkeitsförderung
„Der Anteil auffälliger Jugendlicher ist bereits vor Corona angestiegen“, so Sabine Walper, Direktorin des Deutschen Jugendinstituts in München und damit Chefin einer der größten sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen in Europa. Es brauche eine gut funktionierende Zusammenarbeit von Lehrkräften, Sozialarbeit, Psychologinnen und Psychologen, Sportvereinen und Kinder- und Jugendarbeit. „Ohne das geht Schule nicht.“ Bildung, sagt Walper, sei in einem umfassenden Sinn Persönlichkeitsförderung. Auch die Gesundheit zähle dazu.
Mehr Sozialarbeiterinnen und –arbeiter in Schulen, mehr psychologische Unterstützung, gerade nach den Belastungen durch Corona, das will auch Bildungsministerin Feller. Nicht zuletzt sollen die Lehrkräfte wieder frei werden für ihre pädagogischen und didaktischen Aufgaben, indem sie bei Verwaltungsaufgaben entlastet werden. Gleichzeitig will Feller jedoch die Möglichkeiten für Teilzeit und Frühpensionierung einschränken und Lehrkräfte auf entferntere Schulen abordnen. Das, so sagen ihre Kritiker, bewirke das Gegenteil von dem, was sie plane – den Lehrberuf wieder attraktiver zu machen, so dass auch wieder mehr junge Menschen auf Lehramt studieren.
Ausbildungsgänge sind zu undurchlässig
Bildung beginnt in der Kindertagesstätte, setzt sich fort in der Grundschule und mündet in die anschließenden Bildungskarrieren auf den verschiedenen weiterführenden Schulen: „Auf jeder dieser Etappen fehlen die Fachkräfte“, sagt Sabine Walper. „Wir müssen die Ausbildungsgänge durchlässiger gestalten“, so die Psychologin und Pädagogin – noch immer gilt in Deutschland eine zu strikte Trennung zwischen beruflicher und akademischer, praxisbezogener und wissenschaftlicher Ausbildung.
Neue Ausbildungswege einschlagen, praxisbezogener vorgehen als bisher – das fordert Walper auch für die frühkindliche Bildung: Noch immer würden künftige Erzieherinnen und Erzieher von Leuten ausgebildet, die selbst gar nicht in der Kita arbeiten. Allerdings, so Walper auch im Blick auf die Seitenenstiege, die den Lehrkräftemangel in den Schulen abfedern sollen: „Die Qualität darf nicht vernachlässigt werden. Da gibt es schon jetzt zu viele Schulen mit Nicht-Lehrpersonen.“
Dorothee Feller will den Seiteneinstieg nur nach gründlicher Qualifizierung erlauben. Gelingt er, könnte die bisherige Berufs- und Lebenserfahrung dieser neuen Lehrkräfte der Schule durchaus nützlich sein. Wenn darüber hinaus Sozialarbeiter und psychologisch geschultes Personal zum Einsatz kommen soll, wenn Schulen zu wirklichen Familienzentren ausgebaut werden, in denen auch die Mitwirkung der Eltern gefragt ist, braucht es vor allem eines: Geld. „Bildung ist aber chronisch unterfinanziert“, sagt die GEW-Vorsitzende Çelik.
Esken schlägt „Sondervermögen für Bildung“ vor
Die SPD-Bundesvorsitzende Saskia Esken bringt deswegen die Idee ins Spiel, analog zur Aufstockung der Finanzmittel für die Bundeswehr ein „Sondervermögen für Bildung“ aufzulegen. Als Elternvertreterin habe sie, wie die meisten Mütter und Väter, zu viele Schulgebäude gesehen, in die man seine Kinder nicht zum Lernen hinschicken möchte. Befüllen könnte man dieses Sondervermögen, indem „diejenigen, die ein sehr großes Vermögen haben in unserer Gesellschaft mehr zur Allgemeinheit beitragen“. Zudem spricht sich Esken für eine Grundgesetzänderung aus, um dem Bund mehr Möglichkeiten zu geben, etwas für Bildungsgerechtigkeit zu tun.
Auch wenn damit die Hoheit der Länder beschnitten wird – dass der Bund stärker bei der Bildungspolitik mitwirken soll und dass mehr Geld her muss, dieser Gedanke findet parteiübergreifend immer mehr Anhänger. Über die pädagogische Ausrichtung des Schulsystems ist damit noch nichts gesagt. Aber vielleicht würden so erste Schritte gegen den Bildungsnotstand und damit für den Nachwuchs dieser Gesellschaft getan.
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