Der ukrainische Präsident wirbt in den USA für weitere Militärhilfen. Er trifft den richtigen Ton – aber nicht alle Wünsche werden erfüllt.
Washington-BesuchWie Biden einen Konflikt mit dem selbstbewussten Selenskyj umgeht
Die Pressetribüne im Plenarsaal des amerikanischen Kongresses befindet sich direkt über dem Podium. Das hat einerseits den Nachteil, dass man den Redner nur von hinten sehen kann. Anderseits hat man den Raum bestens im Blick. So sieht man an diesem Abend, wie viele Abgeordnete immer wieder begeistert von ihren Sitzen springen, im Stehen jubeln und applaudieren und einmal gar eine ukrainische Fahne hochhalten. Als der Ehrengast schließlich zum Ausgang strebt, kann er sich vor Händeschüttlern und Schulterklopfern kaum retten.
Offenbar hat der Mann im olivgrünem Armeepullover und Khakihose den richtigen Ton getroffen. „Liebe Amerikaner“, hat er seine Ausführungen begonnen, dann viel über Freiheit und Demokratie gesprochen und am Ende ausgerufen: „Möge Gott unsere tapferen Truppen und Bürger beschützen. Möge Gott für immer die Vereinigten Staaten von Amerika segnen!“ Fast hätte man vergessen können, dass er Präsident eines anderen Landes ist – der Ukraine.
„Militärhilfe ist keine Barmherzigkeit“
Wolodymyr Selenskyj ist für kaum mehr als sechs Stunden in die USA gekommen. Erstmals seit dem russischen Überfall auf sein Land vor 300 Tagen hat er dafür das umkämpfte Territorium seiner Heimat verlassen. Entsprechend präzise geplant ist nicht nur der eng getaktete Ablauf seines Aufenthalts in Washington von der Begrüßung durch Präsident Joe Biden und dessen Frau Jill auf dem Südrasen vor dem Weißen Haus, dem zweistündigen Gespräch im Oval Office, der Pressekonferenz und den Begegnungen mit wichtigen Kongressführern bis hin zur 24-minütigen Ansprache im Kapitol zur besten TV-Sendezeit. Doch auch die Botschaft ist genau durchdacht. Sie lautet: „Danke für eure Hilfe. Euer Geld ist kein Akt der Barmherzigkeit, sondern eine Investition in die globale Sicherheit.“
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Vor dem Kongress spricht der Gast in Englisch. Er redet patriotisch, emotional und leidenschaftlich und erzählt die Geschichte vom David, der sich gegen einen tyrannischen Goliath zur Wehr setzt: „Gegen alle Wahrscheinlichkeit und Untergangsszenarien ist die Ukraine quicklebendig.“ Der David kämpft nicht nur für sich, sondern für den ganzen Westen: „Dieser Kampf wird entscheiden, in was für einer Welt unsere Kinder und Enkel groß werden.“
Selenskyj hat die gefährliche Reise nicht ohne Grund unternommen: Er fürchtet die schwindende öffentliche Unterstützung in den USA für einen scheinbar endlosen Krieg im Allgemeinen und eine mögliche Abkehr der Republikaner, die demnächst im Repräsentantenhaus das Sagen haben werden, von der milliardenteuren Militärhilfe im Besonderen. Die Anzeichen dafür kann man von der Pressetribüne gut beobachten: Nicht nur wirkt die Begeisterung der teilweise in den blau-gelben Nationalfarben gekleideten Demokraten auf der linken Seite des Plenarsaals generell deutlich größer. Auf den Hinterbänken der Republikaner verweigern drei trumpistische Abgeordnete dem Gast demonstrativ jeglichen Beifall.
Joe Biden sagt Patriot-Raketensystem zu
So steht neben dem Dank vor allem das Werben um eine Fortsetzung der Unterstützung auf Selenskyjs Programm. Ein Aufgeben der Ukraine, das macht er überdeutlich, kommt für ihn nicht infrage. Das nächste Jahr, so sagt er, werde „den Wendepunkt“ bringen: „Ich bin sicher, dass wir diesen Krieg gemeinsam gewinnen.“ Da steht US-Präsident Biden ganz auf seiner Seite. Bei der Begegnung sagt er weitere 1,8 Milliarden Dollar Militärhilfe zu, wovon unter anderem erstmals ein hochkomplexes Luftabwehrsystem des Typs Patriot finanziert werden soll. Für das kommende Jahr hat Biden beim Kongress ein neues gewaltiges Unterstützungspaket von 45 Milliarden Dollar beantragt.
Vor noch gar nicht so langer Zeit war der US-Präsident selbst skeptisch gewesen, ob die Patriot-Batterien nicht zu einer Eskalation des Konflikts beitragen könnten. Solche Bedenken wischt er bei der Pressekonferenz nun zur Seite: „Das ist ein Verteidigungssystem. Wir wären froh, wenn es nicht zum Einsatz kommen müsste.“ Dazu müsse der russische Machthaber Wladimir Putin nur seine brutalen Angriffe beenden. Doch dafür gibt es keine Anzeichen.
Bescheidener Dank und Forderungen nach mehr
Selenskyj schafft es, sich in einem Atemzug bescheiden zu bedanken und gleichzeitig ziemlich unmissverständlich deutlich zu machen, dass er die Unterstützung des Westens nicht ausreichend findet. „Die Ukrainer haben nie verlangt, dass Amerikaner für sie kämpfen“, sagt er im Kongress. „Ich versichere Ihnen: Die ukrainischen Soldaten können amerikanische Panzer und Flugzeuge selbst bedienen.“ Die Abgeordneten lachen. Niemand möchte einen Eklat. Aber Panzer und Flugzeuge gehören zu dem Gerät, das die USA bislang nicht liefern.
Bei der Pressekonferenz versucht Biden einen drohenden Dissens mit einem Scherz abzufedern. „Sollten die Vereinigten Staaten nicht alles liefern, was verfügbar ist?“, hat eine ukrainische Journalistin gefragt. „Seine Antwort ist: Ja“, erwidert schlagfertig der US-Präsident und deutet auf seinen Gast. „Dem stimme ich zu“, bestätigt Selenskyj.
Eine Stichelei unter Freunden?
Es klingt wie eine Stichelei unter Freunden. Doch dann wird Biden ernst. „Wir geben der Ukraine, was nötig ist“, insistiert der Präsident. Aber die USA befänden sich in einem Bündnis: „Sie wollen keinen Krieg mit Russland“, skizziert er die Grenzen des westlichen Engagements. „Und sie wollen keinen Dritten Weltkrieg.“
Es wirkt, als wolle Biden noch etwas hinzusetzen. Doch heute soll es um einen demonstrativen Schulterschluss und nicht unterschiedliche Risikoperspektiven gehen. Abrupt bricht der US-Präsident ab: „Vielleicht habe ich schon zu viel gesagt.“