Australien verbietet Social Media für Jugendliche. Ein falscher Schritt: Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Teilhabe am sozialen wie am digitalen Leben.
Social-Media-Verbot für Jugendliche unter 16?Hier werden zwischenmenschliche Kontakte per Staatsdekret gekappt
In Australien sind soziale Netzwerke künftig für alle unter 16 Jahren tabu. Das gilt als bisher weltweit einzigartig und wird kontrovers diskutiert. Wäre ein solches Verbot auch in Deutschland sinnvoll, um Kinder und Jugendliche vor negativen Folgen des Medienkonsums zu schützen? Oder wird damit deren soziale und digitale Teilhabe unterbunden, während die Anbieter sich ihrer Verantwortung entziehen? Alexandra Ringendahl argumentiert für eine Altersgrenze, Christian Bos ist gegen ein Social-Media-Verbot für Jugendliche unter 18 und erklärt hier, warum:
Meine Eltern machten sich Sorgen um satanische Rückwärtsbotschaften, die sich angeblich in den Rillen von Schallplatten verbargen. Mithilfe derer – das wurde damals ernsthaft diskutiert – würden böse Bands junge, beeinflussbare Gemüter zum Drogenkonsum animieren, in den Suizid treiben oder eben gleich dem Gottseibeiuns zuführen. Eine Generation später hatte sich die moralische Panik Computerspielen zugewandt, jeder Doom-Spieler galt als potenzieller Amokläufer. Und heute? Sind die sozialen Medien an allem schuld.
Vinyl ist ein hübsches Nostalgieprodukt, die Gefahr von Games liegt vor allem im Überkonsum – aber das gilt selbst fürs Wassertrinken. Und Tiktok, Snapchat, etc.? Den Suchtfaktor von sozialen Medien werden viele aus eigener Erfahrung kennen. Man muss auch nicht zwingend jung sein, um sich zu hässlich für Instagram zu finden, per Doomscrolling in Endzeitstimmung zu bringen oder sich von rechter Propaganda und pseudowissenschaftlichem Humbug verführen zu lassen. Soziale Medien haben unser Leben radikal umgekrempelt, Rockmusik und Videospiele verblassen da im Vergleich. Sie bestimmen unser Selbstbild und die Art, wie wir uns gegenüber anderen darstellen. Sie haben unser Kommunikationsverhalten grundlegend verändert.
Autoren der Studie sind selbst gegen Verbot
Das sollte man nicht kleinreden. Doch die negativen Effekte der sozialen Medien sind generationenübergreifend. Wir sollten besser auf uns achten und erst recht auf unsere Kinder. Deshalb gleich weite Teile des Internets und damit die gesellschaftliche Realität junger Menschen für tabu zu erklären, das klingt eher nach einem digitalen Update uralter Verbotspädagogik.
Nun könnte man argumentieren, dass Erwachsene für ihren Medienkonsum selbst verantwortlich, Kinder und Jugendliche dagegen besonders zu schützen sind. Die australische Regierung stützt sich bei ihrem Bann auf eine 2022 in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlichte Studie, nach der zu bestimmten Zeiten in der Adoleszenz – elf bis 13 Jahre für Mädchen, 14 bis 15 Jahre für Jungen – eine größere Empfindlichkeit gegenüber sozialen Medien besteht. Eine höhere Nutzung führte bei Analysanten in der jeweiligen Altersgruppe zu einem Rückgang der Lebenszufriedenheit.
Die Autorinnen und Autoren der Studie sollten den Medien-Bann also begrüßen. Stattdessen fühlen sie sich gründlich missverstanden: Die Grade der Empfindlichkeit und ihre Zeitfenster würden sich von Person zu Person erheblich unterscheiden. Faktoren wie die individuelle Persönlichkeit und das soziale Umfeld seien entscheidend. Magersüchtig, angstkrank oder depressiv wird man nicht einfach durch ungebremste Tiktok-Nutzung, da spielen viele andere Gesichtspunkte mit hinein.
Ein pauschales Verbot sei deshalb falsch, so die Studien-Autoren. Vielmehr seien gezielte Interventionen gefragt, „um die negativen Folgen der sozialen Medien anzugehen und gleichzeitig deren positive Nutzung zu fördern“. Auch Australiens Jugendschutz-Experten stimmen mit dieser Einschätzung überein und haben sich in einem offenen Brief vehement gegen das Verbot ausgesprochen.
Vielen Jugendlichen bedeuten die sozialen Medien ihre soziale Existenz
Wo wir von positiver Nutzung reden: Junge Menschen finden über soziale Medien Gemeinschaften, die ihre Erfahrungen bestätigen, die ihnen Sichtbarkeit und ein Gefühl der Zugehörigkeit geben. Gerade diejenigen, die als Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft aufwachsen – ob sie nun wegen ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Nationalität, ihres ökonomischen Status oder ihrer Religion marginalisiert werden. Vielen Jugendlichen bedeuten die sozialen Medien ihre soziale Existenz. Diese per Regierungsdekret zu vernichten, das zeugt von quasi-mittelalterlicher Grausamkeit. Es sind zwischenmenschliche Kontakte, die hier von Staats wegen gekappt werden sollen.
Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Teilhabe am sozialen wie am digitalen Leben. Behaupte nicht ich, das sagt der UN-Ausschuss für Kinderrechte. Und auf sicheren Zugang präzisiert der Ausschuss. Der ist weiterhin nicht gewährleistet, doch statt die Anbieter – und die Erziehungsberechtigten – in die Pflicht zu nehmen, entbindet sie ein Verbot nur von ihrer Verantwortung. Soziale Medien machen süchtig, aggressiv und verbreiten Nazi-Content? Was soll’s, sie sind eh nur für Erwachsene gedacht.
Wie sie ihr Verbot überhaupt in die Tat umsetzen will, darüber schweigt sich die australische Regierung aus. Am Ende müssen Spätgeborene einfach nur bei der Angabe ihres Geburtsjahres ein wenig weiter runterscrollen. Das ist in etwa so wirkungsvoll wie die Warnhinweise, die in den 1990ern Hip-Hop-CDs erst richtig attraktiv gemacht haben. Und genauso lächerlich.